Die Glücksparade
diesem Jahr keinen goldenen Oktober gab wie früher so oft. Wenn es regnete, trommelten die Tropfen laut auf das Blechdach des Containers, und drinnen hallte es hohl wider. Das Wasser lief in breiten Schlieren an den Fenstern nach unten, weichte auch den Boden auf, und ich verstand, warum der Container auf ein Fundament gesetzt worden war.
Wenn es nicht regnete, stand morgens Nebel über dem Platz. Er kam vom Fluss und war manchmal so dicht, dass das andere Ufer dahinter verschwand. Einmal schaute ich sonntags, nachdem ich gerade wach geworden war, aus dem Fenster. Ich sah Bubi über die Wiese gehen, und es sah aus, als watete er durch eine trübe weiße Brühe. Er trug eine schwarze Tasche, und er hatte den gleichen wiegenden Gang wie immer. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah, allerdings brauchte es eine ganze Weile, bis ich das begriff, denn ich hatte nicht erwartet, dass er ohne ein weiteres Wort gehen und wegbleiben würde.
Ein Tag konnte dem anderen gleichen. Abwechslung bestand darin, dass gelegentlich jemand mit einem kleinen Geschenk bei uns vorbeikam, um sich für dieses Jahr zu verabschieden. Den Anfang machten Waldemar und seine Freundin. Ich hatte in der Küche am Tisch gesessen und in einen Comic geschaut, ohne eigentlich darin zu lesen. Meine Eltern waren in ihrem Zimmer und sahen fern, bei geschlossener Tür und leise eingestelltem Ton.
Als ich öffnete, sah ich sie am Fuß der Treppe stehen. Waldemars Freundin, die, wie ich inzwischen wusste, Rita hieß, hielt mir eine Topfblume entgegen. Sie war in durchsichtige Plastikfolie gehüllt, und die Folie knisterte, als sie den Topf zu mir hochreichte.
«Als Dankeschön», sagte Rita. «Für den Vati und die Mutti.»
Ich bat sie, einen Augenblick zu warten, während ich meine Eltern holte.
«Wollt ihr nicht einen Moment reinkommen?», fragte mein Vater.
«Danke», sagte Waldemar. «Aber wir fahren gleich. Wir wollten nur noch auf Wiedersehen sagen.»
Sie schüttelten jedem von uns die Hand,
kurz und schmerzlos
, wie Waldemar es ausdrückte, sie wünschten uns alles Gute, und mein Vater versprach, über den Winter bei ihnen nach dem Rechten zu sehen.
Die nächsten waren Lorna und ihr Mann, die eine Flasche Sekt brachten, dann kamen Klaus und Petra. Meine Mutter kniff kurz die Augen zusammen. Sie sah nicht erfreut aus, aber sie teilte Gläser aus und sagte, außer Orangensaft sei leider nichts da. Klaus nahm sich einen Stuhl und stellte ihn so auf, dass er uns allen frontal gegenübersitzen konnte.
«Dann wird es bald ganz schön einsam hier draußen», sagte er.
Petra lehnte neben mir an der Spüle, die Arme vor der Brust verschränkt. Ihr Gesicht war immer noch stark gebräunt.
«Vielleicht freuen sie sich ja», sagte sie. «Vielleicht sind sie froh, mal ihre Ruhe zu haben vor uns.» Sie lachte schroff und sah dabei zu meiner Mutter hin.
«Ja», sagte Klaus. «Dann könnt ihr endlich Urlaub machen hier.»
«Es gibt auch so genug zu tun», sagte mein Vater. «In diesem Jahr kommen ein paar Schaustellerwagen hierher ins Winterquartier, auf die Zeltwiese.»
Das war auch für uns neu.
«Davon weiß ich ja gar nichts», sagte meine Mutter prompt.
Mein Vater sprang auf und bot Petra seinen Stuhl an, denn es konnten nach wie vor nur drei Leute sitzen. Petra lehnte ab, mein Vater blieb trotzdem stehen, sodass jetzt ein Stuhl frei war.
«Steht auch noch nicht lange fest», sagte er.
«Was machen Schausteller im Winter?», fragte Klaus. Er sagte es so, dass nicht ganz klar war, ob er wirklich eine Antwort darauf erwartete.
«Manche fahren auf Weihnachtsmärkte, aber nicht alle», sagte mein Vater.
«
Wohnen
die dann auch hier oder was?», sagte Petra.
«Nee», sagte mein Vater. «Die bringen nur die Wagen her. Das wird eine nette Abwechslung.»
«Ich meine ja nur, weil schon mal eingebrochen worden ist», sagte Petra. «Und da, wo diese Leute herkommen –» Sie beendete den Satz nicht, sondern ließ das letzte Wort in der Luft hängen und schaute Klaus dabei an.
Mein Vater grinste, als wüsste er etwas, von dem sonst keiner etwas ahnte. «Wo kommen die denn her?», fragte er.
«Na ja, das sind doch Zigeuner oder was weiß ich», sagte Petra.
«Soso», erwiderte mein Vater.
«Darum geht’s doch nicht», sagte Klaus. «Aber man macht sich doch seine Gedanken. Das ist doch erlaubt.» Sein Schuh tippte unruhig auf den Küchenboden, und ich wusste, dass er sich ärgerte.
Die Augen meines Vaters waren ausdruckslos. Vielleicht war er
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