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Die Glücksparade

Die Glücksparade

Titel: Die Glücksparade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Martin Widmann
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hin», sagte mein Vater.
    Er wollte diese Sache ohne uns erledigen, und zwar so rasch wie möglich. Ich stimmte ihm zu, nicht so sehr weil ich an Benni dachte, sondern weil ich mich davor fürchtete. Ich hasste Abschiede.
    Es blieben zwei Nachmittage, an denen ich lange Ausflüge mit Benni unternahm, ohne ihn von der Leine zu lassen. Wir gingen durch die Obstwiesen, auf denen das Gras lang war und niedergedrückt, und weiter bis zum Bahndamm. Am Wegrand bedeckten Blätter den Boden, und Benni stöberte mit gesenkter Schnauze darin herum. Die Brombeersträucher dahinter waren noch grün und dicht, alle übrigen Ranken waren vertrocknet. Einzelne Schäfte stachen hervor, sie ragten senkrecht in die Höhe, und die verdorrten Blüten, die sie nicht abgeworfen hatten, leuchteten wie rostiges Eisen. Ich blieb immer wieder stehen und betrachtete das alles. Am Donnerstagnachmittag, auf dem Rückweg im letzten Tageslicht, das die Wiesen zu einer großen graubraunen Fläche machte, war ich sogar erleichtert.
    Das war Anfang November. In den nächsten Tagen ging ich allein nach draußen und lief zu den Gleisen oder zum Sendemast wie im Sommer. Ich lief, bis ich Seitenstechen bekam, ging dann langsam weiter, um zu Atem zu kommen, und lief wieder, aber es war nicht mehr dasselbe.
     
    «Am Dienstag ist es so weit», sagte mein Vater. «Dann fahr ich nach Holland. Und du hast Sonderurlaub.»
    Er wollte sich sehr früh auf den Weg machen, weil er hoffte, noch am selben Tag zurückzukommen. An dem Morgen, als er abfuhr, versuchte ich lange zu schlafen. Von mir verabschiedet hatte er sich schon abends, dennoch wurde ich wach, als ich hörte, wie er sich nebenan bewegte und die Tür hinter sich schloss. Ich drehte mich zur Wand, den Kopf ins Kissen gepresst, und versuchte weiterzuschlafen. Gegen neun Uhr hielt ich es nicht länger aus. Ein Wind war aufgekommen und musste draußen ein Stoffband gelöst haben, dessen Ende gegen das Glas meines Fensters flatterte. Kurz zuvor, auch das hatte ich hören können, war meine Mutter zum Rauchen ins Freie gegangen. Nun saß sie, genau wie ich angenommen hatte, am Tisch. Ihre Haltung verriet nicht, was sie tat. Wahrscheinlich hatte sie einfach dagesessen.
    «Guten Morgen», sagte ich.
    Ihre Augen waren klein, ich fragte, ob sie müde sei, und sie nickte. Auch als ich mich gewaschen und angezogen hatte, saß sie noch unverändert da. Sie stützte ihre Stirn in die Hand, als würde sie sonst vornüberfallen. Ab und zu strich sie eine Haarsträhne hinters Ohr, das war alles. Einige Minuten vergingen, in denen ich mich am Küchenfenster herumdrückte und ihr Spiegelbild in der Scheibe beobachtete. Ich wünschte mir, dass sie aufstehen und irgendetwas unternehmen würde. Weil weiterhin nichts geschah, drehte ich mich um und fragte, was es zu Mittag gebe. Meine Mutter antwortete nicht. Ich öffnete den Kühlschrank. Drinnen stand eine tiefe Pfanne. Unter ihrem Deckel hingen Wassertropfen, die Kartoffeln darin sahen verwelkt und matt aus.
    «Ich könnte etwas kochen», sagte ich.
    «Du könntest etwas kochen?», wiederholte sie.
    «Ich meine, ich könnte es versuchen.»
    «Wie das draußen windet», sagte sie. «Als würde gleich das Dach wegfliegen.»
    Der Wind war eher zu hören als zu sehen, er ließ die Wände des Containers ächzen, und irgendetwas quietschte in unregelmäßigen Abständen kurz und leise.
    «Da würde dein Vater aber Augen machen, wenn er wiederkommt», sagte sie.
    «Das glaube ich auch», sagte ich. «Aber wo ist eigentlich dein Kochbuch?»
    «Wahrscheinlich steckt es noch im Schuppen in einer Kiste.»
    «Brauchst du es denn nicht mehr?»
    «Hier nicht», sagte sie. «Für das, was ich hier machen kann, brauch ich keine Rezepte, das kann ich auswendig.»
    Ich sagte, ich würde das Buch suchen gehen, nahm den Schlüsselbund meines Vater vom Haken, zog meine Jacke an und meine Schuhe und drückte mich nach draußen. Mir schlug kalter Nieselregen entgegen, während ich zum Büro hinüberlief. Mit dem fünften Schlüssel, den ich ausprobierte, gelangte ich hinein. Als Erstes stolperte ich über einen alten Arbeitsschuh. Ich gab ihm einen Tritt und beförderte ihn so auf die andere Seite des Raumes unter den Schreibtisch.
    Die Umzugskisten nahm ich mir nacheinander vor. Ich wühlte eine ganze Weile herum, bis ich auf die Kochbücher stieß. Es gab mehrere über Salate, auch eins mit Backrezepten, und eins hieß: 1000  REZEPTE FÜR JEDEN TAG . Das steckte ich unter meine Jacke, zog

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