Die Glücksparade
in der Ferne hatte ich die vielen Deutschlandfahnen flattern sehen, die hier gehisst waren.
Die Zufahrt zu der Kolonie, die links des Wegs abging, war durch ein Gittertor versperrt. Davor hielt ich, lehnte mein Rad an das Tor, ging auf und ab und lockerte meine Waden. Ich schaute auf das Gewimmel von Lauben und Hütten hinter der Hecke und überlegte, ob dort das ganze Jahr über Menschen lebten. Ich konnte es mir leicht vorstellen. Beinahe in jedem der Gärten standen ein Mast und eine Holzhütte. Die meisten Hütten waren mit Dachpappe gedeckt, Satellitenschüsseln waren daran angebracht, vor einigen standen Bänke und vor einer sogar eine Hollywoodschaukel. Sie musste schon vor Jahren aufgestellt worden sein, das mintgrüne Polster war im Regen und unter der Sonne ausgeblichen, und ich hätte gern gewusst, ob die Leute, denen sie gehörte, sie noch benutzten oder einfach dort stehen ließen.
«Is was?», rief eine Männerstimme aus einer der Parzellen. Sie klang heiser und bestimmend, aber ich reagierte nicht und versuchte zu erkennen, woher sie kam.
«Ey, is was?», rief der Mann noch einmal.
Jetzt konnte ich ihn sehen, gut zwanzig Meter von der Einfahrt in die Kolonie entfernt, in einem abgeteilten Garten. Er hatte einen Schnurrbart, graues Haar und trug einen hellblauen Anorak. Von mir trennten ihn ein Stück Kiesweg und zwei Gartentore. Ich hustete hinter vorgehaltener Hand, dann sagte ich laut: «Was kostet Ihr Garten?»
«Was willst du?», rief der Kerl mit einem Kopfnicken in meine Richtung, das nur heißen konnte, ich solle verschwinden. Außerdem hatte er den Satz so betont, dass er mich verstanden haben musste.
«Ihr Garten mit der Bude. Ich will ihn kaufen. Was kostet er?», sagte ich, dieses Mal mit festerer Stimme. Sie klang fast wie sonst.
«Hau ab», schrie der andere.
«Hundert Euro», rief ich. «Ich geb Ihnen
hundert
Euro dafür!»
Jetzt drehte er sich um und ging den Weg zurück, auf dem er gekommen war.
«Hundertzwanzig», schrie ich noch lauter. «Hundertzwanzig!»
Er machte eine wegwerfende Geste und verschwand aus meinem Blick.
«Hundertfünfundzwanzig», schrie ich. «Für diese Drecksbude ist das doch ein gutes Angebot!»
Ich hatte mich selbst so noch nie erlebt, so, als könnte mir nichts passieren. Ich stieg auf mein Rad und lachte, bis die Stange zwischen meinen Beinen davon schwankte. So sehr musste ich lachen, dass ich fürchtete, das Gleichgewicht zu verlieren.
«Du hattest deine Chance», versuchte ich noch zu rufen, doch es kam nicht richtig raus, weil ich wieder lachen musste. Dann war es plötzlich vorbei, und ich war enttäuscht.
«Du dumme Sau», schrie ich. «Komm raus, du Sau!» Ich wartete, dann brüllte ich: «Zeig dich, du Feigling. Ich will mit dir reden!»
Ich stand da und schrie diesen Mann an, den ich nicht kannte und auch nicht sah, der wahrscheinlich
den Atem nicht wert
war, wie mein Vater gesagt hätte, und als ich daran dachte, wurde ich noch wütender. Mein Hals war trocken vom Schreien, und ich fühlte mich mit einem Mal vollkommen allein, so allein wie noch nie. Das Gefühl kam mit einer solchen Wucht, dass ich eine Minute oder länger nicht schlucken konnte. Ich überlegte, einen Stein aufzuheben und ihn nach der Hütte dieses Kerls zu werfen, der einfach weggegangen war. Es lagen genug runde Kiesel am Boden, und ich ließ es schließlich nur deshalb sein, weil ich stattdessen den Entschluss fasste, Lisa Heller zu besuchen. Als könnte sie mir etwas wiedergeben, das mir weggenommen worden war.
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[20]
Der Weg endete an einem Durchgang, der von zwei Rohrrahmen verstellt war, sodass ich absteigen und mein Rad dazwischen durchschieben musste. Jenseits davon standen die ersten Häuser einer Siedlung. Es waren niedrige Häuser mit kleinen Vorgärten, an denen nichts Besonderes war außer den Zeitungsrollen aus Blech, die innen an jedem Zaun oder Gartentor neben dem Briefkasten hingen. Eine Frau kehrte den Bürgersteig, stieß dann, als ich näher kam, den Besen mehrfach knallend gegen den Bordstein und verzog sich in eine Einfahrt.
Ich rief ihr ein Hallo zu und fragte, ob es weit zum Bahnhof sei, weil ich dachte, dass ich von dort wieder zu dem Haus finden würde, in dem Lisa wohnte. Die Frau hatte kurze graue Locken und trug eine Schürze über der Hose. Sie lehnte sich auf ihren Besen, das Kinn auf die über dem Stiel gefalteten Hände gedrückt.
«Ja», sagte sie gedehnt. «Da geht’s vorne an der Straße links,
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