Die Glücksparade
mich irgendwie ablenken und hat sich eine neue Show für mich ausgedacht. Ich musste immer wieder kotzen, obwohl ich überhaupt nichts in mir hatte, und er wollte, dass wir dieses Spiel spielen. Er hat die Regeln beim Fahren erfunden. Ein Ersatzspiel für die Glücksparade, hat er gesagt. Es geht um eine Million. Das Geld ist schon da, aber man darf es nur mitnehmen, wenn man weiß, wofür man es ausgeben will. Man sieht Bilder und kann sich Sachen aussuchen. Die sind in Gruppen sortiert. Auf den Bildern sind Häuser, Autos, Boote, Kleider, teure Uhren, nur kennt man den Preis nicht, und in jeder Gruppe sind so viele Bilder, wie es Mitspieler gibt. Die Kandidaten müssen sich für drei oder vier Sachen entscheiden und sich ein Ding aus jeder Gruppe aussuchen, und wenn die zusammen nicht teurer sind als eine Million, dürfen sie das Geld mitnehmen. Einen Joker haben sie, wenn sie irgendwas nicht ziehen wollen.»
Es klang vollkommen absurd, aber ich wusste, dass sie sich so etwas nie hätte ausdenken können. Ich saß auf dem Sofa und ließ sie reden, und gleichzeitig konnte ich sie auf dem Beifahrersitz hocken sehen. Sicher fuhr mein Vater die ganze Zeit auf der rechten Spur, um anhalten zu können, wenn sie wieder rausmusste, immer geradeaus, wie an einer Schnur gezogen, die nicht kürzer wird, zur Rechten der Standstreifen und die Leitplanke und manchmal eine Ausfahrt ins Dunkel, über ihnen blaue Schilder mit weißen Städtenamen, die man erst lesen konnte, wenn das Licht darauffiel.
«Es ist viel schwerer, als man glaubt», sagte sie. «Er hat mich gefragt, was ich mit dem Geld machen würde. Erst fielen mir tausend Dinge ein, aber dann nicht mehr, weil alles zu teuer war. Ich wollte ein Haus mit einem Swimmingpool in Hollywood und Sachen zum Anziehen, und es war nie genug Geld.»
«Und was hat er sich ausgesucht?», sagte ich.
Ihr linker Fuß rutschte ein Stück auf dem Polster entlang, sodass das Leder quietschte.
«Keine Ahnung, ein kleines Haus und ein neues Auto oder so.»
Statt weiterzuerzählen, sagte sie auf einmal: «Du kannst das alles auch deiner Mutter sagen, wenn du willst. Ist mir ganz egal. Schlimmer als jetzt kann es sowieso nicht mehr werden.»
Ich fragte mich, ob sie recht hatte. Es kann immer noch schlimmer kommen, solange man noch nicht tot ist, dachte ich, und ich fand den Gedanken auf eine merkwürdige Weise schön, als läge ein Ausweg darin.
«Du kannst ja mitkommen auf den Platz», sagte ich. «Da sind viele Wagen frei.»
Sie lachte nicht.
«Du kannst sogar einen Garten haben», sagte ich.
Sie stand auf, hob meine Jacke und den Schal vom Boden auf und warf sie mir in den Schoß. Im Treppenhaus schlug eine Tür zu, dann schrie ein Mann. Er brüllte, für die da oben sei er doch nur ein Penner und niemand würde sich darum scheren, wenn er verrecke wie ein Hund.
Wie ein Hund
, brüllte er mehrere Male, und es klang so nah, als stünde er im Zimmer nebenan.
«Da siehst du’s», sagte sie. «Aber morgen geht’s dem wieder gut, der hat das öfter.»
Dann ging sie barfuß zur Tür und öffnete sie. Ich blieb noch eine Weile sitzen, mit der Jacke auf den Knien, und sie kam zurück und schaute mich stumm an.
«Auf Wiedersehen», sagte ich.
«Wer weiß», sagte sie.
Jetzt stand ich auf, sie folgte mir durch diesen Stummel von Flur und machte die Tür hinter mir zu. Auf dem Absatz roch es nach gebratenem Hähnchen. Neben der Fußmatte gegenüber standen ein paar gelbe Gummistiefel. Ich ging langsam die Treppen nach unten, der Geruch blieb.
Jemand hatte einen Kinderwagen neben mein Fahrrad gestellt, und beim Versuch, ihn zur Seite zu ziehen, wäre ich fast die Kellertreppe heruntergestürzt. Ich war weder wütend noch erleichtert, nur erschöpft, und ich hatte einen metallischen Geschmack im Mund. Am liebsten wäre ich noch einmal nach oben gegangen, um das Glas Wasser zu verlangen.
Ich fuhr den gleichen Weg zurück zum Bahnhof, und als ich an die Hauptstraße kam, die bergab führte, hörte ich auf, in die Pedale zu treten, und ließ mich nur noch vorwärtsrollen. Am Fuß des Abhangs, dort, wo die Straßen zu einer mehrspurigen Überführung über die Gleise zusammenliefen, stand ein Parkhaus, das gerade abgerissen wurde. Die einzelnen Decks waren offen, der vordere Teil des Gebäudes fehlte. Es sah aus, als wäre er abgebissen worden. Aus dem Beton ragten krumme Stümpfe von Stahlträgern. Drei Bagger standen hinter dem Zaun, der die Fläche umgab; anstelle der Schaufeln hatten
Weitere Kostenlose Bücher