Die Glücksparade
immer
gerade
, wie der Bus fährt.»
Am Bahnhof nahm ich mein Rad am Lenker und schob es auf dem Bürgersteig. Die Gegend wirkte ausgestorben; die kleinen Geschäfte mit ihren trüben Schaufenstern hier, die Gemüsehändler, Tabakläden und Call-Shops hatten zwar geöffnet, dennoch waren zwei Frauen mit Kopftüchern, die auf der gegenüberliegenden Seite miteinander sprachen, lange die einzigen Menschen, die ich sah. Ich suchte nach einer der Straßen, die über die Gleise und zum Stadion führten. Ich hatte noch immer nicht entschieden, was ich tun würde, benahm mich aber so, als würde es sich von selbst lösen, wenn ich nur weiterfuhr.
Bis zu den beiden hohen Häusern, bei denen Lisa im Sommer ausgestiegen war, brauchte ich noch einmal fast eine Stunde. Die Steigung hinauf schob ich das Rad, erst wo die Straße eben war, stieg ich wieder auf, und schließlich war ich bei den vielen Garagen, zwischen denen Lisa durchgegangen war. Ich sah nun, dass auch einige Bäume dazwischenstanden, Akazien, dachte ich, ohne genau zu wissen, woher ich das Wort hatte und woher ich solche Bäume kannte. Auch einen Kinderspielplatz gab es, auf dem niemand spielte.
Ich schaute auf den Sandkasten, die Rutschbahn und die Wippe, deren Balken schräg stand. Der Sand war schwarz gesprenkelt mit Blättern und vertrockneten Zweigen, die der Wind abgerissen und dorthin geweht hatte, und eine Elster hüpfte dazwischen herum und flog davon, als ich näher kam. Dann fuhr ich zur Tür des nähergelegenen Hauses und begann die Klingelschilder zu lesen. Es waren immer zehn untereinander in vier Reihen, und als ich tatsächlich ein Schild fand, auf dem L. HELLER stand, wurde mir heiß im Gesicht.
Ich weiß nicht, ob ich gewartet hätte oder einfach weggefahren wäre, hätte sie sich nicht nach meinem Klingeln durch die Sprechanlage gemeldet. Aus dem Lautsprecher neben der Tür hörte sich ihre Stimme an wie die von einer sprechenden Puppe, der auf den Bauch gedrückt wird.
«Simon», sagte ich. «Kann ich hochkommen?»
«Mir geht’s beschissen», sagte sie.
«Kannst du mich reinlassen?», sagte ich.
Wir gaben uns nicht die Hand, als ich bis zum sechsten Stock nach oben gestiegen war und sie dort stehen sah.
«Wo ist dein Vater?», fragte sie.
«Zu Hause wahrscheinlich», sagte ich.
«Was machst du dann hier?»
Erst jetzt klang sie überrascht, und ich begriff, dass sie wirklich geglaubt haben musste, er sei hier und bei mir. Womöglich hatte sie überhaupt nur deshalb geöffnet.
Ich konnte nicht antworten, ich stand nur vor ihr und sah sie an. Ihr Haar war kürzer geschnitten als im Sommer, es reichte nur noch bis knapp über die Ohren, und ihr Kinn wirkte spitzer. Das machte es leichter, sie anzuschauen.
«Wie bist du denn hergekommen?», sagte sie. «Da gibt es doch keinen Scheißbus, da, wo ihr wohnt.»
«Mit dem Fahrrad», sagte ich.
«Das ist nicht dein Ernst.» Sie wirkte wütend, als hätte ich sie beleidigt. «Was willst du denn?»
«Ich weiß es nicht», sagte ich. «Wirklich, ich bin einfach losgefahren. Kann ich reinkommen?»
Sie drehte sich um und ging vor mir her in die Wohnung, durch einen kurzen Flur, in dem sieben oder acht Paar flache Schuhe an der Wand aneinandergereiht waren. In dem Raum an dessen Ende stand ein Fernsehapparat direkt auf dem Laminat neben ein paar Videokassetten, einer schwarzen Ledercouch, einer Stehlampe. Sonst war das Zimmer leer, auch die Wände waren kahl. Der Rollladen war heruntergelassen bis auf einen schmalen Schlitz, durch den nur wenig Tageslicht drang, der Fernseher lief, und die Lampe war eingeschaltet.
Sie setzte sich auf die Couch und zog die Beine seitlich an. Dann ließ sie ihre Sandaletten auf den Boden rutschen, und ich konnte die Tätowierung auf ihrem Fuß sehen. Ein Schmetterling auf einem gewundenen Blumenstängel mit vielen kleinen Blättern. Um den anderen Knöchel trug sie die Silberkette mit dem Halbmond. Weil mir nichts einfiel, sagte ich irgendwann:
«Kann ich vielleicht ein Glas Wasser haben?»
«Sag doch einfach, dass du was
trinken
willst», sagte sie.
«Das hab ich doch», erwiderte ich.
«Nee, du hast so duckmäuserisch rumgeredet», sagte sie.
Es war sehr warm hier drin, es roch nach verschmortem Staub, und an meinem Hals kratzte der komische Schal, den ich meiner Mutter abgenommen hatte. Ich löste ihn, zog auch meine Jacke aus und ließ beides auf den Fußboden fallen.
«Hast du meinen Vater getroffen?», fragte ich.
Sie schwieg und fuhr sich durch
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