Die Glücksparade
ihr kurzes Haar.
«Hat er das erzählt?», fragte sie.
Ich zuckte mit den Schultern.
«Er hat mir halt einen Gefallen getan», sagte sie. «Das war sehr nett von ihm.»
«Was denn für einen Gefallen?»
«Ach, lass mich in Ruhe», sagte sie und drehte sich weg. Sie schaute auf den Fernseher. Ich stellte mich so davor, dass sie nichts mehr sehen konnte, direkt vor den Bildschirm.
«Ich geh nicht, wenn du es mir nicht erzählst», sagte ich.
Es klang vollkommen kindisch, aber ich konnte nicht anders. Lisa schaute mich nicht an. Sie kaute auf einem Fingernagel.
«War das, als er weg war, bei den Schaustellern?», sagte ich.
«Ja».
Ich erschrak, obwohl ich es geahnt hatte.
«Sag mir, was ihr miteinander gemacht habt», sagte ich.
Es machte mir Mühe, das überhaupt rauszubringen, weil ich gleichzeitig das Gefühl hatte, jemand drücke innen gegen meinen Hals. Ich hörte mich selbst. Meine Stimme gefiel mir nicht, sie klang gequetscht.
Lisa lachte auf.
«Gar nichts haben wir miteinander gemacht. Das hättest du wohl gern.»
«Was dann?» Ich fragte, obwohl ich sicher war, dass sie es mir nicht verraten würde, und ich war kurz davor loszuheulen. Sie schaute mich an und schüttelte die ganze Zeit den Kopf. Dann sagte ich, ich würde es meiner Mutter erzählen und die würde es ihrer bescheuerten Mutter sagen, und es klang so jämmerlich, dass ich mich schämte.
«Das tust du nicht», sagte Lisa schneidend.
«Doch», schrie ich. Zum zweiten Mal schon schrie ich heute jemanden an, nur war es mir jetzt wirklich ernst. Am liebsten wäre ich auf sie losgegangen. Vor lauter Verzweiflung trat ich gegen eine Videokassette, die ohne Hülle auf dem Boden lag und krachend gegen den Heizkörper flog. Ein Stück schwarzes Plastik splitterte beim Aufprall davon ab.
«Du Scheißkerl», schrie sie. «Ich hatte ein Problem und hab’s wegmachen lassen. In einer Klinik. O.k.? Dein Vater hat mir geholfen, weil ich ihn gefragt hab. Bist du jetzt zufrieden?»
All das ging sehr schnell, und ich begriff auch sofort, was für eine Art Problem sie meinte. Es war mir vollkommen klar.
Und dann schrie ich wieder, ich schrie: «Du bist ein egoistisches Miststück. Und dein Kind hätte mir leidgetan. Nur deshalb hat er dir geholfen.»
«Du», kreischte sie, und dann ging das, was sie hatte sagen wollen, unter in einem Geräusch, wie ich es noch nie gehört hatte, es erinnerte mich an das Schreien von Katzen in der Nacht, und ihr Gesicht sah aus, als würde es auseinanderplatzen und zerfließen zu einer weichen Gummimaske mit kleinen Augen und einem riesigen Mund. Sie weinte so heftig, dass sie sich verschluckte.
Erst mal blieb ich einfach stehen, ohne etwas zu tun. Ich wünschte mir, dass sie sich beruhigte, doch das Schluchzen wurde nicht weniger, und sie fing an, mir furchtbar leidzutun. Im Schein der Lampe, der auf ihren Kopf fiel, schimmerte die dünne weiße Linie, an der sich ihr Haar teilte.
Vielleicht ging ich deshalb zu ihr hin und versuchte, ihr einen Arm um die Schultern zu legen. Einmal schlug sie ihn heftig weg, dann unternahm sie nichts mehr dagegen. Es war ein seltsames Gefühl, sie heulte neben mir, und irgendwann zog ich die Fernbedienung unter ihren Waden hervor und schaltete den Fernseher ab.
«Weißt du, was er uns erzählt hat?», sagte ich. «Dass er irgendwelche Schausteller treffen muss.»
Sie wischte ihre Nase an einem Ärmel ab und kroch unter meinem Arm weg.
«Die hat er auch getroffen», sagte sie. «Er hat mich nach Hemsteede zu dieser Klinik gebracht und ist sofort wieder weggefahren zu so einem Acker oder was.»
Erst jetzt verstand ich, dass er ihr das Gleiche erzählt hatte wie meiner Mutter und mir und dass diese Geschichte, die er sich ausgedacht hatte, wirklich groß genug war, dass wir alle darin Platz hatten.
Danach fragte ich nichts mehr, nicht nach dem Vater oder wo er war, und nicht, warum es in Holland hatte passieren müssen. Ich saß nur auf dem Ledersofa und schaute auf den dünnen Streifen zwischen Rollladen und Fensterbank. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Lisa neben meinem Vater im Auto saß und wie sie in der Dämmerung über die Autobahn fuhren.
«Was ist denn jetzt mit deiner Sendung?», sagte ich irgendwann, als sie nicht mehr weinte und wieder langsamer atmete.
«Welche Sendung?», sagte sie.
«Die Glücksparade», sagte ich.
«Vergiss es», sagte sie. Und nach einer Pause: «Das hat er mich auch gefragt. Gleich als wir im Auto saßen, auf dem Rückweg. Er wollte
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