Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
verschiedene Menschentypen und ihr Verhältnis zur Sexualität. Pater Benedikt hat sich selber einem der beschriebenen Menschentypen zugeordnet. In ihrem Werk schildert Hildegard von Bingen, dass es Männern von diesem Menschentyp schwerfällt, auf Sexualität zu verzichten. Sie erklärt, dass Männer wie er eine Frau zu Tode bringen können, weil sie ihre Triebe nicht im Griff haben. Pater Benedikt wollte wohl sichergehen, dass ihm sein Trieb nicht zum Verhängnis wird. So zumindest klang es für mich, was er damals erzählte. Also hat er sich für eine Kastration entschieden.«
Grieser zog verblüfft die Augenbrauen hoch. »Er hat sich kastrieren lassen, um nicht über Frauen herzufallen?«
Schwester Lioba musste lächeln. Dann wurde sie wieder ernst. »Nein. Pater Benedikt war wie ich der Überzeugung, dass der Mensch nicht Opfer seiner Triebe ist. Er hat es jederzeit in der Hand, eine Entscheidung zu treffen. Aber er hoffte, durch eine Kastration die Lust zu dämpfen und sich so besser auf das Wesentliche konzentrieren zu können.«
Grieser warf ihr einen zweifelnden Blick zu.
»Wissen Sie«, fuhr Schwester Lioba fort. »Der Zölibat fordert den Menschen. Notker Wolf, Abtprimas und damit oberster Würdenträger der Benediktiner, sagte vor einigerZeit in einem Interview, die Sexualität ist ein machtvoller Trieb, und der Umgang der Menschen damit ist ein Problem. Und das ist es auch für uns. Der Verzicht fordert uns heraus. Manche mehr und manche weniger. Jeder Priester und jede Ordensschwester muss einen eigenen Weg finden, mit dem Verzicht zu leben. Von Benedikt, unserem Ordensgründer, heißt es, dass er sich unbekleidet in einen Dornenstrauch stürzte, um der Versuchung in Gestalt einer Jungfrau zu widerstehen und die Lust in Schmerz umzuwandeln. Jutta von Sponheim, die Lehrerin Hildegards von Bingen, hat zeitlebens eine eiserne Gürtelkette auf der Haut getragen, damit es ihr nicht an Tugend fehlt. Pater Benedikt hat einen anderen Weg gewählt, aber ebenfalls einen gewaltsamen. Und viele schaffen es nicht, zölibatär zu leben. Im schlimmsten Fall endet es mit riesigen Schlagzeilen, und viele Menschen wundern sich, dass auch Priester und Nonnen sexuelle Gefühle haben. Der große Verdienst Hildegards von Bingen ist es, dass sie die Sexualität des Menschen nicht ausgeklammert hat und auch nicht verurteilt oder dämonisiert. Sie hat sich mit diesem Urtrieb des Menschen ebenso gewissenhaft auseinandergesetzt wie mit seiner Verdauung, seinen Organen und seinen Krankheiten.«
»Was ist mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern durch Geistliche?«, fragte Grieser.
»Sexueller Missbrauch hat mit sexuellen Gefühlen nichts zu tun«, sagte Schwester Lioba hart. »Sexuelle Gewalt an Kindern ist schlicht und einfach kriminell. Und Kriminelle dieser Art finden Sie in der katholischen Kirche leider ebenso wie in anderen strikt hierarchisch gegliederten Institutionen, deren Strukturen es leichter machen, diese Verbrechen ungestraft zu verüben.«
Grieser musterte sie nachdenklich. Dann stand er auf und verstaute das schwarzlederne Buch in der Innentasche seinesJacketts. Nachdenklich folgte Schwester Lioba seinen Bewegungen. Der Hauptkommissar hob den Kopf und verabschiedete sich. Schwester Lioba überfiel das unangenehme Gefühl, dass er sie in den Kreis der Verdächtigen aufgenommen hatte.
Als Emma aufwachte, schlug ihr Herz viel zu schnell, und Schweiß stand auf ihrer Stirn. Sie strich sich verwirrt über die Stirn. Dann erinnerte sie sich an den Traum, der sie geweckt hatte. Ihr Vater und ihre Mutter hatten sich gestritten. Aus ihren Mündern kamen fremde Laute, die nur vage an eine Sprache erinnerten. Im Traum hatte Emma die beiden verstehen können, doch jetzt erinnerte sie sich nicht mehr daran, worum es ging.
Frustriert zog sie den Vorhang zur Seite. Ein dünner Nieselregen trieb über die Straße und hinterließ nasse Schlieren auf dem Fenster. Emma kletterte aus dem Bett. Sie setzte sich hinter das Steuer, startete den Motor und fuhr auf die Autobahn zurück bis zur nächsten Raststätte. Dort stellte sie ihren Wagen auf dem Parkplatz ab, schnappte sich ihren Waschbeutel und ging in den Toilettenraum. Sie nahm sich nur kurz Zeit für eine Katzenwäsche. Dann kehrte sie zum Bus zurück, baute das Bett um und setzte sich mit einer Tasse Milchkaffee und einem Honigbrot an den Tisch. Die Schiebetür stand einen Spalt offen, sie hörte Motorgeräusche und von weit her menschliche Stimmen.
Sie hatte
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