Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
merkwürdig. Passt einfach nicht zusammen.«
»Er hatte eine Handschrift, die der Kirche unangenehm ist«, sagte Emma. »Darin schreibt eine anerkannte und geachtete Theologin über Sexualität, so offen und vorurteilsfrei wie kaum ein kirchlicher Würdenträger vor ihr und wenige nach ihr. Heutzutage beschäftigen sich kritische Theologen und Theologinnen vor allem damit, wie die Kirche zur Sexualität steht, weniger mit der Sexualität an sich. Und früher wurden vor allem Abhandlungen verfasst, was als sündig anzusehen ist und was nicht. Der Priester war dabei, die Handschrift zu übersetzen, und wollte es anschließend öffentlich machen. Wer weiß, was in der Originalhandschrift noch alles steht, was nicht überliefert wurde und bis heute niemandem bekannt ist. Die Kirche hatte bestimmt Interesse daran, das zu verhindern.«
»Die alte Verschwörungstheorie!« Paul zog eine Schachtel mit breitem Karomuster zu sich her, die neben seinem Computer stand. Er klappte den Deckel auf und nahm sich einen Keks heraus. »Das ist doch immer der gleiche Blödsinn. Der Vatikan hat etwas zu verbergen und jagt allen hinterher, diewas zu sagen haben. Ist doch albern.« Er schob sich den Keks auf einmal in den Mund.
»Genau wie dieses ewige Gerede über Sexualität, übergriffige Priester und Lehrer. Der sexuelle Trieb des Menschen kann doch nicht immer an allem schuld sein«, brauste Emma auf.
»Ist er auch nicht«, sagte Paul kauend. »Bei Gewaltverbrechen geht es meist um Geld und bei sexuellen Übergriffen in aller Regel um Macht. Die Sexualität ist meist nur ein Mittel, um der anderen Person die eigene Macht zu demonstrieren. Funktioniert besser als Gewalt.«
Emma blickte nach draußen. Ein Ausflugsbus hielt direkt vor ihrem Büro. Die Türen öffneten sich und eine Gruppe älterer Menschen strömte heraus in bunter Freizeitkleidung und praktischen Schuhen, die sich vergnügt auf einen Stadtbummel vorbereiteten.
»Weißt du, was ich glaube?«, fragte Paul.
Emma, die gedankenverloren die Ausflügler beobachtete, wandte den Kopf.
»Ich könnte mir vorstellen, dass Karfreitag noch was passiert.«
»Jemand hat Miriam Schürmann die Handschrift abgenommen und sie zum Schweigen gebracht«, erwiderte Emma. »Das war’s.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Paul düster. »Da steckt noch mehr dahinter.«
»Und was?«
»Keine Ahnung.« Paul schwang seine Füße vom Schreibtisch. »Aber damals fing an Palmsonntag alles an. Und der Karfreitag endete mit einem Brandzeichen beim Pater. Ich glaube nicht, dass mit der Leiche an Palmsonntag die Geschichte bereits zu Ende ist.«
Er zog seinen Rucksack zu sicher her, nahm sein Aufnahmegerätheraus und schob es neben seinen Computer, den er mit einem Knopfdruck startete.
»Ich muss jetzt den Bericht sprechen über die Gerichtsverhandlung«, sagte er, während er wartete, bis sein Computer hochfuhr. »Was hast du vor?«
»Ich fahre nach Mainz«, sagte Emma und betrachtete nachdenklich die Stichwörter, die sie sich notiert hatte. Dann faltete sie das Blatt Papier und steckte es in ihre Hosentasche. »Mal sehen, ob ich in der Umgebung der ermordeten Frau noch etwas herausfinden kann.«
Auf dem Weg zu ihrer Wohnung fuhr Emma beim Biosupermarkt vorbei und füllte ihre Vorräte auf. Sie verstaute ihre Einkäufe im eingebauten Kühlschrank des Busses und im Einbauschrank unter der Spüle. Dann fuhr sie weiter in ihre Wohnung und packte ihre Reisetasche.
Sie setzte sich in ihren Bus und fuhr auf die Autobahn Richtung Mainz. Ihre Gedanken kreisten unaufhörlich um den Mord. Sie merkte, dass sie ein unheimliches Gefühl beschlich, wenn sie daran dachte, was ihr Vater erzählt hatte. Sie hatte immer geglaubt, dass damals mehr vorgefallen war. Es klang so einfach, wie er das gestern erzählt hatte. Doch konnte sie ihm tatsächlich glauben?
Emma versuchte, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Ihr Blick fiel auf das Schild, das die nächste Ausfahrt ankündigte. Bingen. Spontan setzte sie den Blinker und beschloss, dem Kloster noch einen Besuch abzustatten. Kurze Zeit später steuerte sie den Wagen auf den Parkplatz unterhalb des Klosters, der verlassen in der Abenddämmerung lag. Sie wusste noch von vorgestern, dass in der Abteikirche um diese Uhrzeit das Nachtgebet gehalten wurde.
Als sie die Kirche betrat, hatten die Ordensschwestern in ihrem Chorgestühl bereits mit dem Gregorianischen Choral begonnen. Vereinzelte Gottesdienstbesucher saßenüber mehrere Bankreihen verteilt, sonst
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