Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
die Handschrift zu überlassen. Wir haben eine der besten Restauratorinnen hier im Konvent. Mit der Restaurierung der Handschrift hätte Schwester Agnes europaweit Anerkennung bekommen können und so …«
Sie zögerte.
Grieser sah von seinen Notizen auf.
»Wir hätten weitere Aufträge gut gebrauchen können«, schloss Schwester Lioba.
»Sie hofften also, durch die Restaurierung der verschollenen Handschrift Hildegards weitere Aufträge zu bekommen.«
Schwester Lioba kniff die Augen zusammen. »Sie haben bereits von der Handschrift gehört«, stellte sie fest.
Grieser nickte. Er begegnete ihrem Blick und sah sie unverwandt an.
»Wir hätten weitere Aufträge und das Geld gut gebrauchen können«, wiederholte Schwester Lioba leise. »Wir hätten den Fund der Handschrift nie für uns beansprucht. Ich wollte lediglich, dass Schwester Agnes und ihr Team die Gelegenheit erhalten, sie zu restaurieren.«
»Hätten Sie das Buch nicht an die Kirche abgeben müssen, sobald es auftaucht?«, fragte Grieser.
»Ja, vermutlich«, gestand Schwester Lioba resigniert ein. »Aber ich hatte gehofft, wenn wir es in Händen haben, dass unsere Werkstatt den Auftrag für die Restaurierung erhält. Schwester Agnes ist eine der besten Restauratorinnen innerhalb unserer Kirche weltweit«, sagte sie stolz.
»Doch Miriam Schürmann wollte nicht«, sagte Grieser.
Schwester Lioba nickte.
Ihr Gespräch wurde durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Schwester Lioba antwortete dann mit einem kurzen Ja. Schwester Beatrix trat im blau gemusterten Arbeitshabit ein, dessen Schürze seitlich verrutscht war. Sie stellte ein Tablett auf den Besuchertisch, auf dem eine Thermoskanne stand, zwei Tassen und Porzellangefäße mit Milch und Zucker.
Schwester Lioba erhob sich und bedeutete Grieser, mit ihr in der Besucherecke Platz zu nehmen. Schwester Beatrix schenkte ein und ging wortlos. Der durchdringende Geruch von Kaffee verdrängte für einen Moment die Müdigkeit. Dankbar griff Schwester Lioba nach ihrer Tasse und trank.
»Nein, sie wollte nicht«, nahm sie ihr Gespräch wieder auf. »Sie warf mir vor, dass ich sie ausnützen wollte. Dabei hatte ich nur das Wohl des Konvents im Auge.«
»Sie konnten Frau Schürmann auch nicht umstimmen?«, fragte der Hauptkommissar.
Schwester Lioba lächelte flüchtig. »Ich habe es versucht. Leider ohne Erfolg.«
»Und auch Gerhard Lehmann hat es nicht geschafft«, fuhr Grieser fort. Er griff nach seiner Tasse.
Schwester Lioba sah ihn überrascht an. Sie spürte, wie sie rot wurde. Verlegen rieb sie sich die Stirn. »Sie haben recht, ich habe es mit allen Mitteln versucht. Ich habe nicht nur unseren alten Konrektor gebeten, mit ihr zu reden. Dass ich unsere ehemaligen Klassenkameraden zu meiner Weihe eingeladen habe, war kein Zufall. Ich hatte gehofft, gemeinsam würden wir es schaffen, Miriam zu überzeugen.«
»Deswegen waren alle an diesem Wochenende hier«, sagte Grieser nachdenklich.
Schwester Lioba nickte.
»Aber sie wollte trotzdem nicht«, fuhr Grieser fort.
Schwester Lioba seufzte. Sie erhob sich, trat an das Fenster und sah hinunter auf den Klosterhof. Ein Mann und eine Frau schlenderten Arm in Arm zum Klosterladen. Hinter ihnen traten zwei Frauen in bunter Freizeitkleidung aus der Abteikirche.
Sie wandte sich um und blickte Grieser fest an.
»Wir haben im Moment einen finanziellen Engpass. Ich hätte alles getan, um den Konvent zu retten«, erklärte die Äbtissin. »Aber Miriam war nicht zu überzeugen.«
»Sie hätten alles getan?«, wiederholte Grieser und ließ sie nicht aus den Augen.
Verärgert zog Schwester Lioba die Augenbrauen zusammen. »Sie glauben nicht ernsthaft …«, begann sie.
Doch Grieser unterbrach sie mit einer Handbewegung.
»Entschuldigen Sie bitte, Mutter Oberin.« Er klappte sein Notizbuch zu. »So war das nicht gemeint. – Wussten Sie, dass Pater Benedikt kastriert war?«, wechselte er unvermittelt das Thema.
Erstaunt hob Schwester Lioba den Blick. »Ja«, gab sie zögernd zu, »das wusste ich.«
»Woher?«
»Er hat es erzählt. Bei einem der Treffen unserer Hildegard-AG hat er es erzählt.«
»Wissen Sie, warum er es getan hat?«, fragte Grieser.
Schwester Lioba zögerte. Dann beschloss sie, dass es keinen Grund mehr gab, zu schweigen.
»Die Handschrift«, begann sie. »Hildegard von Bingen hat sich in ihrer Handschrift sehr ausführlich mit der Natur des Menschen und auch mit der menschlichen Sexualität beschäftigt. Sie beschreibt darin vier
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