Die Glut des Zorns (Billy Bob Holland) (German Edition)
Lektion in Sachen Demut erteilt«, sagte er und zog eine Angelrute hinter einem Regenmantel hervor. »Kommen Sie ein Stück mit. Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen.«
Tags zuvor hatte der Sheriff einen Friedhof im Norden der Stadt besucht, ein wunderschönes, im Schatten der Bäume liegendes Gelände auf einer Hügelkuppe, wo die ältesten Familien der Stadt bestattet waren. Er sah Cleo Lonnigan, die auf einer Bank am Grab ihres Sohnes saß, sich vorbeugte und eine Reihe langstieliger Rosen am Grabstein niederlegte. Sie redete mit sich selbst und hörte nicht, wie der Sheriff von hinten auf sie zukam.
»Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?«, fragte er.
»Heute ist sein Geburtstag«, sagte sie.
»Oh«, sagte er und nickte.
»An seinem Geburtstag wünsche ich ihm immer etwas für das neue Lebensjahr, das für ihn angebrochen wäre, und lege dann Rosen auf sein Grab«, sagte sie.
Der Sheriff setzte sich zu ihr. Die steinerne Bank fühlte sich kalt und hart an. »Ich mache mir Sorgen um Sie, Cleo.«
»Wieso das denn, J. T.?«
Er blickte den Hang hinab, zwischen den Bäumen hindurch, auf das braune Cadillac-Kabriolett, das mit offenem Verdeck auf der Auffahrt stand. Der Cadillac war frisch gewachst und mit weichen Lappen poliert, sodass das Laub, das sich darauf spiegelte, aussah, als wäre es in den Lack eingebrannt.
»Sind Sie mit Nicki Molinari hier?«, fragte der Sheriff.
»Wir wollen die Vergangenheit auf sich beruhen lassen.« »Mit so einer Aussage kann ich mich nur schwer abfinden.« Sie stand von der Bank auf. Im Schatten war es kühl, und sie hatte sich einen Seidenschal um den Hals gebunden.
»Ich bitte Sie auch nicht darum, J. T.«, erwiderte sie und ging den Hang hinab auf Nicki Molinaris Auto zu. Der Wind blies die Rosen auf dem Grab ihres Sohnes kreuzweise übereinander.
»Ich werde aus ihr einfach nicht schlau, Sheriff«, sagte ich.
»Das ist gar nicht so schwer. Wegen dem ergaunerten Geld ihres Mannes ist ihr kleiner Junge umgebracht worden. Cleo sagt, sie hätte nicht gewusst, woher das Geld stammt. Wenn die Leute mehr Geld haben, als sie haben dürften, wissen sie immer, woher es stammt. Folglich muss sie jeden Morgen, wenn sie aufsteht, vor sich selber leugnen, dass der Tod ihres kleinen Jungen auf ihre Kappe geht. Möchten Sie so ein Bündel mit sich rumschleppen?«
Wir standen jetzt im Schatten der Higgins Street Bridge, und der Sheriff hatte es fertig gebracht, seinen Haken in einer Weide zu verheddern.
»Warum haben Sie mir die Sache mit Cleo und Molinari erzählt?«, fragte ich.
»Bloß zur Warnung. Sie würde Sie am liebsten an einem Fleischhaken hängen sehen.«
»Sie haben wirklich eine bemerkenswerte Ausdrucksweise, Sir«, sagte ich und wollte gehen. »Übrigens, woher kennen Sie Cleo so gut?«
»Mein Sohn liegt auf dem gleichen Friedhof. Er ist beim Unternehmen Desert Storm gefallen. Das war ein Krieg, den reiche Männer ums Öl geführt haben, Mr. Holland. Mein Sohnwar noch zu jung, um sich selber zum Militär zu melden. Deshalb habe ich die Papiere für ihn unterschrieben.«
Er versuchte seinen Haken frei zu bekommen und zerrte an der Schnur, bis sie in seiner Hand zerriss.
Ich kaufte in dem Lebensmittelladen bei der Universität Sandwiches mit Avocados und Streichkäse, gefrorenen Joghurt und kalte Getränke, verstaute alles in einer Kühlbox und holte Temple bei ihrem Motel ab. Wir fuhren durch den Hellgate Canyon im Osten der Stadt und dann hinaus in Richtung Rock Creek, wo wir zu Mittag essen wollten. Ich erzählte Temple von dem Gespräch, das der Sheriff mit Cleo auf dem Friedhof geführt hatte. Ich dachte, ich könnte es einfach beiläufig erwähnen und hinter mich bringen, ohne mit unangenehmen Erinnerungen an einstige Beziehungen konfrontiert zu werden. Jedenfalls dachte ich mir das so.
»Was hat Gottes Geschenk an die armen Indianer vor?«, sagte Temple.
»Molinari nach ihrer Pfeife tanzen lassen. Er ist ihr nicht gewachsen«, sagte ich.
»Vielleicht ist es auch andersrum. Xavier Girard sagt, Molinari steigt mit seiner Frau in die Kiste. Aber vielleicht ist unser gutes Mädchen asexuell oder lesbisch oder macht sich einfach nichts draus. Was meinst du?«
»Keine Ahnung«, sagte ich.
»Sind wir da vielleicht ein bisschen empfindlich?«
»Nein, ich wünschte bloß, ich hätte es nicht zur Sprache gebracht«, sagte ich.
Danach herrschte Stille, vom Surren der Reifen auf dem Asphalt einmal abgesehen. Wir waren jetzt in einem lang gezogenen Tal, zu
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