Die Glut
Auerhähne und noch andere Lebewesen verschiedenster Gattung, die den in Not geratenen Artgenossen zu Hilfe kommen, ja, ich habe selbst gesehen, wie sie manchmal sogar artfremden Tieren helfen. Hast du im Ausland je so etwas erlebt? ... Dort ist die Freundschaft bestimmt etwas anderes, fortgeschrittener, zeitgemäßer als bei uns in unserer zurückgebliebenen Welt. Die Lebewesen organisieren die gegenseitige Hilfe ... Bisweilen kämpfen sie dabei mit Mühe gegen die Hindernisse an, aber es gibt immer starke, hilfsbereite Wesen, in jeder lebendigen Gemeinschaft. In der Tierwelt habe ich dafür Hunderte von Beispielen gesehen. Unter den Menschen nicht so viele. Oder besser gesagt, kein einziges. Die Sympathien, die ich zwischen Menschen entstehen sah, erstickten am Ende alle im Sumpf der Eitelkeit und des Egoismus. Kameradschaft und Kumpanei sehen bisweilen nach Freundschaft aus. Gemeinsame Interessen können zwischenmenschliche Situationen schaffen, die der Freundschaft gleichen. Und auch um der Einsamkeit zu entfliehen, lassen sich die Menschen gern zu Vertraulichkeiten hinreißen, die sie später allerdings bereuen, die ihnen aber eine Zeitlang als Spielarten der Freundschaft erscheinen mögen. Das alles ist natürlich nicht das Wahre. Vielmehr stellt man es sich so vor - mein Vater tat es noch -, dass die Freundschaft ein Dienst ist. Wie der Liebende, so erwartet auch der Freund keinen Lohn für seine Gefühle. Er will keine Gegendienste, er sieht den Menschen, den er als Freund erwählt hat, nicht in einem illusorischen Licht, er sieht seine Fehler und akzeptiert ihn mitsamt allen Folgen. Das wäre die Idee. Und hätte es ohne eine solche Idee einen Wert zu leben, Mensch zu sein? Und wenn ein Freund versagt, weil er kein richtiger Freund ist, darf man dann seinen Charakter, seine Schwäche anklagen? Was ist eine Freundschaft wert, in der man den anderen für seine Tugenden, seine Treue, seine Beständigkeit liebt? Was sind die Arten von Liebe wert, die mit Treue rechnen? Ist es nicht unsere Pflicht, den treulosen Freund genauso zu akzeptieren wie den treuen, der sich aufopfert? Ist nicht das der wahre Gehalt einer jeden menschlichen Beziehung, diese Selbstlosigkeit, die vom anderen nichts, rein gar nichts fordert und erwartet? Und um so weniger erwartet, je mehr er selbst gibt? Und wenn er dem anderen das Vertrauen einer ganzen Jugendzeit schenkt und dann die Opferbereitschaft eines ganzen Mannesalters und am Schluss das Höchste, das ein Mensch dem anderen geben kann, nämlich das blinde, bedingungslose, leidenschaftliche Vertrauen, und wenn er dann sehen muß, dass der andere treulos und gemein ist, darf er dann aufbegehren und Rache wollen? Und wenn er aufbegehrt, wenn er nach Rache schreit, ist er dann ein wahrer Freund gewesen, er, der Betrogene und Verlassene? Siehst du, mit solchen theoretischen Fragen habe ich mich beschäftigt, nachdem ich allein zurückgeblieben war. Natürlich gab die Einsamkeit keine Antwort. Auch die Bücher gaben keine vollständige Antwort. Weder die alten Bücher, die Werke chinesischer, jüdischer und antiker Denker, noch die neuen, die alles rundheraus sagen, wobei es eher um das runde Sagen als um das Sagen der Wahrheit geht. Aber gibt es überhaupt jemanden, der je die Wahrheit ausgesprochen, niedergeschrieben hat? ... Auch darüber habe ich lange nachgedacht, nachdem ich eines Tages begonnen hatte, in meiner Seele und in den Büchern zu forschen. Die Zeit verging, und das Leben um mich herum wurde dämmrig. Die Bücher und die Erinnerungen häuften und verdichteten sich. Und in jedem Buch war ein Körnchen Wahrheit, worauf jede Erinnerung antwortete, dass der Mensch vergeblich die wahre Natur der Beziehungen kennenlerne, er werde durch solche Erkenntnisse doch nicht klüger. Und deshalb haben wir kein Recht, vom anderen bedingungslose Ehrlichkeit und Treue zu verlangen, nicht einmal dann, wenn die Geschehnisse gezeigt haben, dass dieser Freund untreu war.«
»Bist du ganz sicher«, fragt der Gast, »dass dieser Freund untreu gewesen ist?«
Jetzt schweigen sie lange. Im Halbdunkel, im unruhigen Kerzenlicht wirken sie klein; zwei zusammengeschrumpfte Greise blicken sich an; kaum sichtbar in dem Licht.
»Ich bin nicht ganz sicher«, sagt der General. »Deswegen bist du da. Darüber reden wir.«
Er lehnt sich in seinem Sessel zurück und verschränkt die Arme mit einer ruhigen, disziplinierten Bewegung. Er sagt: »Denn es gibt eine Tatsachenwahrheit. Das und das ist geschehen.
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