Die Götter - Ruf der Krieger - Grimbert, P: Götter - Ruf der Krieger - Les Gardiens de Ji, Tome 1: La volonté du démon
Mann lieferten die Nachtwächter immer wieder bei Damián ab, vermutlich weil sie Scherereien fürchteten, wenn sie ihn ohne viel Federlesens in den Kerker warfen. Dabei hatte Amanón keine besondere Order ausgegeben. Vielleicht hätte er das tun sollen, denn dann hätte Damián sich nicht zwei- bis dreimal in jeder Dekade dieses hämische Grinsen ansehen müssen, das Grinsen eines Mannes, der sich weigerte, seine Lektion zu lernen.
Krampfhaft versuchte Damián, die Wut zu unterdrücken, die in ihm aufstieg. Als sich das Schweigen in die Länge zog, verlor der Gefangene die Geduld.
»Lässt du mich jetzt endlich frei, oder was?«, blaffte er und hob die gefesselten Hände.
Damián war derart überrumpelt von der Unverschämtheit des Kerls, dass er seinen Zorn für einen kurzen Moment vergaß, eine Schublade aufzog und einen Schlüsselbund hervorholte. Dann ging er um seinen Schreibtisch herum zu dem Mann, dessen Grinsen immer breiter wurde.
Sie waren so unterschiedlich, ja geradezu gegensätzlich,
dass Damián bisweilen nicht glauben konnte, dass dieser Mann sein Bruder war.
Der Junge schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, das sie geflissentlich übersah. Schließlich floss auch ihr Verhalten in ihre Note ein. Angestrengt bemühte sich Lorilis um eine undurchdringliche Miene, konnte sich dem Charme des Müllerlehrlings aber nicht ganz entziehen. Nach einer Weile rief die Ratsfrau, bei der sie in die Lehre ging, die Vierzehnjährige zur Ordnung: »Lorilis! Du scheinst mir nicht ganz bei der Sache zu sein. Hörst du überhaupt zu?«
Schamesröte schoss ihr in die Wangen. Sie hatte sich so sehr darauf konzentriert, das Gehabe des Jungen zu ignorieren, dass sie fast nichts vom Vortrag des Müllermeisters mitbekommen hatte.
»Äh … Ja, natürlich … Der Bach wird durch einen Kanal gelenkt. Verschiedene Klappen regeln die Wasserzufuhr, die Strömung bewegt das Mühlrad und dieses wiederum den Mahlstein …«
»Das weiß jeder«, fiel ihr die Ratsfrau ins Wort. »Aber kannst du uns auch sagen, wie dieser Kanal heißt? Und wie viel Getreide die Mühle in einem Dekant mahlen kann?«
»Siebenhundert Pfund!«, rief der Lehrling stolz.
Lorilis warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Offenbar reichte es ihm nicht, ihren Unterricht zu stören, er musste sie auch noch wie einen Trottel dastehen lassen. Sein selbstgefälliges Lächeln und Augenzwinkern konnte er sich sparen! Plötzlich wusste sie nicht mehr, was sie noch kurz vorher an ihm gefunden hatte.
»Der Kanal heißt Gerinne«, sagte sie trotzig. »Und oben am Wehr fließt das Wasser durch ein Gitter, das regelmäßig gesäubert werden muss, mindestens einmal pro Dekade. «
Der Müller und die Ratsfrau nickten, und der Unterricht ging weiter. Als Nächstes besichtigten sie die Getreidespeicher. Doch obwohl sich Lorilis fest vornahm, von nun an aufmerksamer zu sein, begann sie sich rasch wieder zu langweilen. In dieser Dekade hatten sie bereits eine Sägemühle, eine Walkmühle und eine Papiermühle besucht. Die Funktionsweise war immer dieselbe, nur die Erzeugnisse unterschieden sich. Jedenfalls hatte sie den Eindruck, mittlerweile genug über das Thema zu wissen. Warum schleppte Ratsfrau Izaelle sie nur immer weiter von Mühle zu Mühle?
Natürlich kannte Lorilis die Antwort: Es gehörte zu ihrer Ausbildung. Wenn sie Ratsfrau des Matriarchats von Kaul werden wollte, musste sie Land und Leute kennen, und daher war es unabdingbar, dass sie alles über die verschiedenen Handwerke wusste.
Nicht immer hatten die Ratsfrauen eine Lehre durchlaufen. Nach alter Tradition hatte jedes Dorf seine Älteste in den Rat der Mütter entsandt. Die Weisheit und Lebenserfahrung dieser Frauen hatten die althergebrachte Ordnung bewahrt, und lange Zeit waren alle mit dieser Regelung zufrieden gewesen. Doch seit Lorilis’ Urgroßtante Corenn dem Rat der Mütter vorstand, hatte sie zahlreiche Neuerungen durchgesetzt. Mittlerweile durfte keine Ratsfrau mehr eine Entscheidung treffen, ohne alle damit zusammenhängenden Abläufe genau zu kennen.
Eine weitere Veränderung war die Einführung des Noviziats:
Junge Mädchen, die Ratsfrau oder Dorfmutter werden wollten, konnten ab dem Alter von dreizehn Jahren bei einer erfahrenen Ratsfrau in die Lehre gehen. Die Lehrerinnen unterrichteten die Mädchen in verschiedenen Fächern und reisten mit ihnen durchs Land. Wer keine große Begabung zeigte, wurde nicht gleich wieder nach Hause geschickt – manche Mädchen gaben von selbst nach einer
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