Die Götter von Freistatt
Höhepunkt, als Molin ankam. Seylalha begann mit der Pirouette. Ihr wadenlanges honigfarbenes Haar drehte sich mit ihr in einem weiten, blendenden Kreis. Das zerlumpte Übungsgewand hatte sie längst abgelegt, doch wirbelte sie noch nicht so schnell, daß der Hohepriester ihre festen Schenkel und die kleinen Brüste nicht hätte bewundern können. (Azyunas Tanz mußte von einer nordischen Sklavin vorgeführt werden, sonst wirkten die Bewegungen grotesk.) Molin wußte, daß das Gesicht der Sklavin ihrem Körper an Schönheit in nichts nachstand, obgleich es momentan unter dem wirbelnden Haar verborgen war.
Er schaute zu, bis die Musik zu einem letzten Crescendo anschwoll, dann schob er mit hörbarem Klicken das Guckloch zu. Bis zum Festabend, wenn sie für den Gott höchstpersönlich tanzte, würde Seylalha keinen richtigen Mann sehen.
2
Die Sklavin war zu ihrer Kammer geleitet - oder besser gesagt, geführt worden. Der feiste Eunuch drehte den Schlüssel, der einen schweren Riegel einschnappen ließ. Er hätte sich die Mühe sparen können. Nach zehn Jahren Gefangenschaft, und vor allem jetzt, da sie in Freistatt war, würde Seylalha wohl kaum durch einen Fluchtversuch ihr Leben aufs Spiel setzen.
Er war wieder da gewesen und hatte ihr zugesehen. Das und noch mehr wußte sie. Sie hielten ihren Verstand für so flach und reglos wie es ein Teich an einem windstillen Tag war - doch sie täuschten sich. Sie glaubten, sie könne sich an ihr früheres Leben, bevor sie sie in einem schmutzigen Sklavenpferch gefunden hatten, nicht erinnern. Aber sie war lediglich zu klug, um davon zu sprechen. Genausowenig hatte sie sich je anmerken lassen, daß sie Rankene sehr wohl verstand, daß sie diese Sprache von jeher verstand. Gewiß, die Frauen, die ihr den Tanz beibrachten, waren alle stumm und konnten ihr nichts, nicht einmal unbeabsichtigt, verraten. Doch es gab andere, die ihre Zunge noch besaßen. Durch sie hatte sie so allerlei über Freistatt, Azyuna und das Fest des Zehntodes erfahren.
Hier in Freistatt war sie die einzige, die den Tanz in seiner Gänze kannte, ohne ihn bereits vor dem Gott getanzt zu haben. Seylalha schloß darauf, daß dieses Jahr ihr Jahr sein würde - die schicksalsschwere Nacht ihres Sklavinnenlebens. Sie bildeten sich ein, sie wüßte nicht, was dieser Tanz war. Sie dachten, sie führe ihn aus Furcht vor den Frauen mit den bitteren Gesichtern und den lederumwickelten Stöcken vor. Aber in ihrem Stamm wurden schon neunjährige Mädchen für heiratsfähig gehalten, und eine Verführung blieb eine Verführung, da spielte die Sprache keine Rolle.
Ebenso hatte Seylalha gefolgert, daß - wenn sie nicht eine dieser zungenlosen Frauen werden wollte, die sie ausbildeten - sie schwanger von der Vereinigung mit dem Gott werden mußte. Der Legende nach war Vashankas unerfüllt gebliebener Wunsch, daß seine Schwester ihm ein Kind gebäre. Für ihre Freiheit würde Seylalha dem Gott diesen Gefallen tun. Das Fest des Zehntodes war in einer Neumondnacht, das war ihre fruchtbare Zeit. Wenn der Gott ein Mann nach Art ihrer Stammesbrüder war, würde sie empfangen.
Sie kniete sich auf die weichen Bettkissen, die man ihr zur Verfügung gestellt hatte, und wiegte sich auf den Knien vor und zurück, bis die Tränen in Strömen über ihre Wangen flossen. Doch sie weinte lautlos, damit ihre Wächter nicht darauf aufmerksam würden und ihr einen Beruhigungstrunk einflößten. Sie betete zum Sonnengott, zum Mondgott, dem Gott, der des Nachts die Herden beschützte, und zu allen anderen schattenhaften Dämonen, an die sie sich aus der Zeit vor ihrer Versklavung erinnerte. Immer aufs neue wiederholte sie ihre Gebete: »Laßt mich schwanger werden! Laßt mich das Kind des Gottes gebären! Laßt mich leben! Bewahrt mich davor, eine von ihnen zu werden!«
Aus der Ferne hörte sie ihre Schwestern, die kein Glück gehabt hatten, sich hinter verschlossenen Türen mit Hilfe von Tamburinen, Lauten, Flöten und Rasselstöcken miteinander unterhalten. Sie hatten ihren Tanz vorgeführt und ihre Zunge verloren. Ihr Schoß war mit Bitterkeit gefüllt, ihre Musik war eine klagende Weise - die ihr ihr Geschick vorhersagte, falls sie kein Kind gebar.
Als ihre Tränen trockneten, beugte sie den Rücken, bis ihre Stirn auf dem weichen Haar zu ruhen kam. Dann begann sie im Rhythmus der fernen Unterhaltung wieder zu tanzen.
3
Molin stiefelte finster um den Marmortisch herum, den er aus der Hauptstadt mitgebracht hatte. Der Stumme, der ihm
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