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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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Depression an. Sein Doktorvater war am Tag vor dem Attentat auf Dollfuß einem schweren Krebsleiden erlegen. Kurt war damals in Princeton gewesen, es hatte ihn erschüttert, dass er seinem Mentor in dessen letzten Stunden nicht hatte beistehen können. Die Krankheit hatte Hahn innerhalb von drei Monaten dahingerafft. Noch ein Vater, von dem Kurt sich nicht hatte verabschieden können.
    Das ist das entropische Prinzip, hätte er schlussfolgern können. Die Unordnung in einem System nimmt grundsätzlich zu. Eine zerbrochene Tasse klebt sich nicht von selbst wieder zusammen. Das Universum ist in Unordnung, es nutzt die Unordnung, um weitere Unordnung zu erzeugen.
    Das Sanatorium Purkersdorf wurde also zeitweilig seine zweite Heimat. Mir blieb nichts anderes übrig, als seine seltenen Ausgänge abzuwarten. Dann wurde ich flüchtig umarmt, wir aßen zusammen zu Abend oder taten jedenfalls so. Manchmal gingen wir sogar ins Kino, und dann rannte er schnell zu seiner Mutter, um ihr zu zeigen, dass er Fortschritte machte, denn sie hielt den Schlüssel zu seiner vorübergehenden Freiheit in der Hand. Die rothaarige Anna hatte mir nahegelegt, nicht mehr zu fordern. „Du musst stark sein für zwei, Adele. Das ist deine Lebensaufgabe. Und du kannst dich glücklich schätzen, denn die meisten Leute wissen mit ihrem Scheißleben gar nichts anzufangen.“
    Kurt hielt sich nie lange in der Stadt auf, wo ihm die ständigen Spannungen das bisschen Energie raubten, das er noch besaß. Nach und nach verließen die vitalen Kräfte die Universität – jüdische und nazifeindliche Gelehrte waren durch „gute Österreicher“ ersetzt worden, die Dollfuß’ Nachfolger Schuschnigg und damit den austrofaschistischen Machthabern die Treue geschworen hatten. Sosehr Hitler sich auch dagegen verwahrte, den „Anschluss“ zu betreiben – die Hyäne pisste bereits an die Grenze. Nur Mussolinis Zögern verhinderte noch, dass er zur Tat schritt. Die Intellektuellen wanderten von nun an massenweise aus. Kurt verlor dadurch seine besten Freunde, aber auch die notwendige fruchtbare Umgebung für sein Geistesschaffen.
     
    Trotz seiner fragilen Gesundheit war Kurt so dumm, eine Einladung nach Princeton zu einer zweiten Gastdozentur für das akademische Jahr 1935/36 anzunehmen. Ich tobte, ich flehte ihn an zu bleiben, ich drohte mit Trennung – er blieb unbeugsam. Weder seine Familie noch seine Ärzte konnten ihn zur Vernunft bringen. Er misstraute Ärzten, dabei war sein eigener Bruder doch Radiologe! Vertrauen hatte er nur in Bücher. Doch als er mehr medizinische Ratgeber konsultierte als Philosophie- und Mathematikbücher, stand ihm eine Rückkehr ins Sanatorium kurz bevor. Im Sommer 1935 zeigte er deutliche Symptome einer Depression. Rudolf hatte sie wohl übersehen, sonst hätte er seinem Bruder niemals erlaubt, auf Reisen zu gehen. Kurt aß fast nichts mehr, er schob das Essen in winzigen Stückchen an den Tellerrand, um seine Appetitlosigkeit zu überspielen. Er klagte über Zahnschmerzen, Bauchweh, er schlief nicht mehr. Er legte sich nicht einmal mehr hin. Er rührte mich nicht mehr an oder aber er zwang sich zu einer Parodie auf den Beischlaf, nur um nicht darüber reden zu müssen. Kurt war schon immer wortkarg gewesen, nun aber hüllte er sich vollständig in Schweigen.
    Er reiste im Herbst ab, und ich konnte über meinen mangelnden Einfluss auf diesen schwächlichen, unflexiblen und schlecht beratenen Mann nachgrübeln! Ein paar Tage nach seiner Ankunft in Princeton verschlechterte sich sein Zustand massiv. In seinem letzten Brief schrieb er mir, dass ihm der amerikanische Arzt, an den ihn Institutsleiter Flexner verwiesen hatte, dringend geraten habe, schnellstmöglich nach Wien zurückzukehren. Als ich den Brief bekam, war Kurt schon auf dem Rückweg. Der hilfsbereite Oswald Veblen hatte ihn auf ein Schiff mit Kurs auf Europa verfrachtet und versprochen, seiner Familie nichts zu sagen, um sie nicht zu beunruhigen. Doch er schickte Rudolf ein Telegramm und teilte ihm Kurts Ankunft am 7. Dezember in Le Havre mit. Halb im Koma kam Kurt in Paris an, von dort rief er seinen Bruder zu Hilfe. Doch vergebens. Er blieb noch drei Tage in Paris, dann fand er – wie, weiß ich nicht – die Kraft, mit dem Zug nach Wien zu fahren. Allein.
     
    Ich hatte ihn niemals dazu bringen können, mir diese drei Tage zu schildern, aber ich weiß, dass er nie gekannte Qualen durchlitten hatte. Ich habe Jahre gebraucht, um ihm ein paar dürftige Einzelheiten

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