Die Göttin im Stein
einen Schritt zurück. Sie war rot geworden. »Wie kannst du nur so reden!« sagte sie zornig, nahm Haibe bei der Hand und zog sie mit sich: »Komm, wir suchen meine Mutter!«
Haibe folgte ihr verwirrt, beunruhigt. Daß es dein eigener Bruder ist, den du da verfluchst ...
War es ein Fehler gewesen, sich dieser jungen Frau anzuvertrauen?
Als sie die Hofbäuerin, Wais Mutter, kennenlernte, vergaß sie die Bedenken.
Ein Gesicht, in dem das Leben seine Spuren hinterlassen hatte, ohne es zu verschließen. Augen, denen nichts fremd zu sein schien.
Wai berichtete ihrer Mutter von Haibes Anliegen, und die Hofbäuerin richtete sich aus dem Gemüsebeet auf, umfaßte mit ihren erdigen Händen Haibes und drückte sie.
»Sei unser Gast für eine Nacht oder für so viele Nächte, wie du es willst! Ich weiß, was es bedeutet, einen Sohn durch die Wolfskrieger zu verlieren. Wie viele Tode mehr als ich mußt du gestorben sein durch den Tod deiner Söhne, deiner Brüder, deines Mannes!«
Haibe sah sie fragend an: »Du hast einen Sohn, der auch von den Wolfskriegern ...«
Die Hofbäuerin unterbrach sie: »Laß uns von dir sprechen und davon, wie wir dir helfen können! Komm, setzen wir uns hier in den Schatten. Wai, bring etwas zu trinken! Und frag Tante Babu, ob sie nicht zu uns kommen mag!«
Haibe ließ sich neben der Hofbäuerin auf einer Bank unter einem Kirschbaum nieder. Auf einmal drängte nichts mehr.
Wai setzte ihr Baby zu Füßen ihrer Mutter ab, verschwand und kehrte kurz darauf mit einem Krug Milch zurück, eine sehr alte, gebrechliche Frau am Arm führend.
Gemeinsam saßen die Frauen im Schatten des Baumes und tranken die Milch. Das Kind kroch zwischen ihren Füßen herum und steckte sich kleine Steine in den Mund, die Wai ihm geduldig wieder herausnahm. Es dauerte nicht lang, und Haibe erzählte von allem, was seit dem letzten Sommer geschehen war.
Mit wachsender Betroffenheit hörten die anderen zu. Doch als Haibe von ihren erfolglosen Bemühungen berichtete, eine Spur der geraubten Mädchen und Frauen zu finden, sprang Wai plötzlich auf und rief: »Agala! Vielleicht kann sie dir weiterhelfen!«
»Agala?« fragte Haibe.
Die alte Tante nickte. »Ja. Agala ist die Frau von Krugor, unserem jungen Herrn. Sie ist eine Tochter der Söhne des Himmels. Aber in gewisser Weise ist sie dennoch eine von uns.« Sie versank in Schweigen.
»Du mußt wissen«, nahm die Hofbäuerin das Wort auf, »meine Kusine Blobele, Tante Babus Tochter, hat ein schweres Leben gehabt. Sie war noch ein junges Mädchen, da hat Rösos, unser alter Herr, sie für sich beansprucht, als wir nach einer schlechten Ernte die Abgaben nicht liefern konnten. Und Rösos hat Blobele einfach verschenkt, an einen seiner Freunde.«
Haibe fuhr auf. »Das kann er?«
»O ja, das kann er«, sagte die Hofbäuerin bitter. »Blobele wurde die Nebenfrau von Rösos' Freund, einem Herrn, der weit weg von hier wohnt. Dessen rechtmäßige Frau war gerade gestorben und hatte ein kleines Mädchen zurückgelassen. Und das war Agala.
Blobele hat Mutterstelle an der kleinen Agala vertreten. Wir wußten es nicht, wir haben Blobele niemals wiedergesehen, aber Agala hat es uns gesagt.
Kurz vor Agalas Hochzeit mit Krugor, dem Sohn von Rösos, ist Blobele gestorben, aber zuvor hat sie Agala ihre Lebensgeschichte erzählt und ihr aufgetragen, uns von ihrem Tod zu unterrichten. So kommt es, daß wir die Frau unseres jungen Herrn kennen. Mehr als kennen.«
»Meine Blobele«, murmelte die alte Tante. »Sie war so mutig, so stark. Und sie hat nie vergessen, wer sie war.
Sie hat der kleinen Agala heimlich die Liebe zur vielgestaltigen Göttin eingepflanzt. Eine Tochter der Söhne des Himmels hat sie im Glauben an die Göttin erzogen, ohne daß deren Vater es merkte!«
»Und jetzt verehrt Agala mit uns die Große Göttin, ohne daß ihr Mann und ihre Schwiegereltern es wissen«, ergänzte Wai. »Manchmal, wenn Rösos und Krugor weggeritten sind und ihre Schwiegermutter einen Besuch macht, kommt Agala zu uns, tanzt mit uns, singt mit uns, betet mit uns.
In letzter Zeit öfter.
Unter größter Geheimhaltung natürlich – sie setzt viel damit aufs Spiel, wahrscheinlich sogar ihr Leben. Aber die Hoffnung, daß die Göttin ihr hilft, ist größer als ihre Angst.«
Die Hofbäuerin nickte. »Ja, so ist es. Agala ist noch immer nicht schwanger. Und schon das zweite Jahr verheiratet. Ihr Mann, ihr Schwiegervater, ihre Schwiegermutter, alle beginnen sie für ihre Unfruchtbarkeit zu
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