Die Göttin im Stein
hätte dir eine ganze Menge zu sagen, aber nicht vor den Ohren eines Gastes. Schlimm genug, was Haibe sich hier hat anhören müssen!«
Mit großen Schritten ging er hinaus. Krachend fiel die Tür zu.
Der Bruder der Hofbäuerin sah Wai an. Unter seinem Blick wurde sie rot. »Es tut mir leid«, murmelte sie.
»Das ist immerhin ein Anfang«, erwiderte er kühl. »Du weißt, ich teile Otrus Ansichten nicht. Aber in einem hat er recht: Es ist beschämend, was sich hier vor einem Gast abgespielt hat.«
Wai nickte. »Entschuldigt bitte. Ich – ich gehe dann jetzt mal zu Otru.« Sie setzte sich ihr Baby auf die Hüfte und ging ihrem Bruder nach.
»So weit ist es gekommen«, sagte der Bruder der Hofbäuerin und sah ihr nach. »Daß Schwester sich gegen Bruder wendet, Sohn gegen Mutter.
Was unzweifelhaft war, wird in Frage gestellt, und was unerschütterlich war, gerät ins Wanken.
Ich liege wach in der Nacht und möchte etwas dagegen tun und weiß nicht, was.«
Vorsichtig näherte sich Haibe dem Baum unweit des Gemüsegartens. Angestrengt spähte sie in die Dunkelheit der weichenden Nacht: Auf keinen Ast treten, kein Geräusch verursachen!
Der Wind wehte vom Hof her. Die Hunde konnten sie nicht wittern. Aber wenn sie sie hörten ...
Kein Hof der Söhne des Himmels ohne Wachhund.
Endlich erreichte sie die Linde. Nichts regte sich, nur die ersten Vögel begannen ihr Morgenlied. Der große Hof jenseits des Gartens lag – hinter Palisaden fast verborgen – ruhig und noch schlafend.
Prüfend betrachtete sie den Baum, warf das mitgebrachte Seil über den untersten Ast, fing das herunterfallende Ende auf, knotete eine Schlaufe, setzte den Fuß hinein und kletterte den Stamm hinauf.
Sie holte das Seil wieder ein und stieg höher in die Linde. In einer Astgabel ließ sie sich nieder, lehnte den Rücken an den Stamm, schlang den Arm um einen Ast und stützte die Füße sicher auf einen anderen. Noch einmal prüfte sie, daß sie vor Blicken gut verborgen war und dennoch zwischen dem dichten Blattwerk hindurch zum Gemüsegarten spähen konnte.
Nun blieb nichts als warten. Warten, ob die Frau, von der Agala gesprochen hatte, in den Gemüsegarten kommen werde. Ob sie sie wenigstens aus der Ferne sehen könnte, vielleicht sogar erkennen.
»Es ist nicht Naki«, flüsterte sie vor sich hin. »Es wäre vermessen, zu erwarten, daß es Naki ist.«
Und doch, wider alle Vernunft, war da die Hoffnung.
Agala hatte ihr den Weg zu diesem Hof gewiesen. Dank Agala hatte sie endlich eine Spur, nein zwei: hier und am Königshof.
Agala, ihr stilles Gesicht, ihr scheuer Blick, und dann das plötzlich aufflammende Mitgefühl in ihren Augen, als die Hofbäuerin vom Überfall auf Haibes Dorf und von Haibes Suche berichtete.
Worte, hastig hervorgestoßen – schon drängte für Agala die Zeit, fürchtete sie, die Schwiegermutter könnte mißtrauisch werden, warum der Gang zum Wasser so lange dauere –: »Ja, ich habe von geraubten Frauen gehört. Viele sollen es sein, aus mehreren Dörfern im Westen, die meisten seien am Königshof, als Geschenk der Wolfskrieger an den König. Gut möglich, daß deine Tochter unter ihnen ist!
Und da ist noch etwas, meine Kusine, sie ist mit Eraiox verheiratet, ein großer Hausstand, fünf Nebenfrauen und so viele Nebenkinder, meine Kusine sagte mir letzten Sommer, sie habe Eraiox darum gebeten, ihr ein oder zwei der geraubten Frauen aus dem Westen zu verschaffen. Sie sagte, sie brauche eine tüchtige Magd für den Gemüsegarten und sie habe gehört, auf dem Feld und im Garten gebe es keine besseren Mägde als die Frauen aus dem Westen.
Beginn dort deine Suche, einen halben Tag durch den Wald nach Westen, bis du an einen kleinen Fluß kommst, ein Stück flußaufwärts, ein großer Hof hinter einem Eichenhain. Du erkennst ihn an der alten Linde neben dem Gemüsegarten.
Aber nimm dich in acht, daß du Eraiox nicht in die Hände fällst!
Er
ist –« Agala hatte abgebrochen und sich mitten im Satz zum Gehen gewandt.
Haibe schloß die Augen und beschwor Nakis Gesicht vor sich: die hellen blauen Augen, die winzige Narbe zwischen den Brauen, der sanfte Schwung der schmalen Nase, das flachsblonde Haar, der Wirbel am Haaransatz, diese widerspenstige Locke, die sich allen Zähmungsversuchen widersetzte ...
Stimmen riefen im Hof, eine schwere Tür knarrte, Hunde schlugen an, ein Pferd wieherte.
Haibe öffnete die Augen. Hatte sie etwa geschlafen? Es wurde bereits hell.
Das Tor war aufgestoßen. Ein Reiter
Weitere Kostenlose Bücher