Die Göttin im Stein
verließ den Hof, ein Junge und ein Hund rannten hinter dem Pferd her. Der Reiter trug einen schwarzen Mantel.
Zwei Mädchen gingen mit großen Gefäßen zum Bach, schöpften Wasser, kehrten zum Hof zurück. Ihre Haare waren dunkel. Nicht Naki. Auch keine anderen jungen Mädchen der Dala oder Koa.
Geduld!
Ein schwerer Ochsenkarren rumpelte aus dem Hof, begleitet von einem Mann und einem Jungen. Ein Mann mit einer Kiepe auf dem Rücken näherte sich durch den Eichenhain und verschwand im Hof.
Lange ereignete sich nichts mehr.
Zirrkan, hilf mir dies Warten zu ertragen!
Endlich kam wieder jemand aus dem Tor. Gespannt beugte Haibe sich vor – kein junges Mädchen. Es war eine alte, grauhaarige Frau, die sich an Krücken zum Gemüsegarten schleppte.
Mühsam hüpfend bewegte sich die Alte an zwei Stöcken vorwärts. Ihr verkrüppelter linker Fuß baumelte über dem Boden.
Enttäuscht lehnte Haibe sich zurück.
Unter den Dala und Koa gab es keine alte Frau mit verkrüppeltem Fuß.
Die Alte hielt an der Gartentür an, nahm beide Stöcke in eine Hand, öffnete das Gatter, humpelte hinein. Dann kniete sie nieder, legte die Krücken beiseite, nahm eine Hacke vom Gürtel und begann die Erde zwischen den Erbsen zu lockern und das Unkraut herauszureißen.
Von jedem Büschel schüttelte sie sorgsam die in den Wurzeln hängende Erde, ehe sie es auf den Weg warf.
Diese Bewegung – was war es, woran sie Haibe erinnerte? Ihr Herz begann heftig zu klopfen.
Keinen Blick ließ sie mehr von der Alten. Sie war fremd. Und doch ...
Die Alte glättete mit den Händen das Erdreich, das sie vom Unkraut befreit hatte, malte mit dem Finger in fließender Linie das Zeichen des heiligen Wassers hinein. Dann kreuzte sie die Hände über der Brust und verneigte sich, bis ihre Stirn den Erdboden berührte.
»Songo«, flüsterte Haibe, »Songo!«
Tränen strömten über Haibes Gesicht. »Songo, ich habe dich nicht erkannt, so furchtbar verändert – Vogelgöttin mit den wissenden Augen, was ist mit Songo geschehen?«
Songo, Ritgos Frau, Sippenmutter der Koa, im letzten Sommer eine tatkräftige Frau in den besten Jahren, mit weizenblondem Haar und festem Schritt, war nun eine verkrüppelte, grauhaarige Alte.
Wenn Songo so furchtbar gelitten hat, was ist dann mit Naki, mit Gwinne, Muhai und Uori –
Lange saß Haibe an ihren Ast geklammert. Endlich befahl sie sich selbst Mut, vergewisserte sich sorgfältig nach allen Seiten, daß sie mit Songo allein war, und rief leise deren Namen.
»Songo! Songo, hörst du mich, ich bin es, Haibe, Sippenmutter der Dala, ich bin ganz in deiner Nähe, in der Linde versteckt!«
Die grauhaarige Frau ließ die Hacke fallen, als habe sie sich verbrannt, fuhr herum, starrte zur Linde hinauf.
»Du kannst mich nicht sehen, aber ich sehe dich! Songo, ich«, sie brach ab. Eine Frau trat zum Hoftor heraus und ging auf den Gemüsegarten zu.
Songo begann wieder zu hacken.
Die andere schnitt einige Kräuter, unterhielt sich mit Songo in der harten Sprache der Söhne des Himmels, lachte freundlich. Endlich wandte sie sich wieder zum Gehen.
Eine Weile arbeitete Songo weiter, als habe sie Haibe vergessen. Dann richtete sie sich auf, sah sich um, nahm die beiden Krückstöcke und humpelte aus dem Gemüsegarten auf die .Linde zu, ließ sich unter ihr nieder.
»Sei mir gegrüßt, Geist der Haibe. Ich danke dir, daß du mit mir sprichst«, sagte sie, ohne den Kopf zu heben.
»Songo, ich bin es selbst, Haibe. Ich bin kein Geist, ich lebe.
Wenn du nach oben blickst, kannst du mich sehen!«
»Haibe ist im Grab gestorben«, erwiderte Songo bestimmt,
»denn keiner war mehr im Dorf, der ihr das Grab öffnen
konnte.«
»Nein. Ich war dem Tod nah, aber Ritgo hat mich aus dem Grab geholt.«
Songo gab einen überraschten Laut von sich, blickte zu ihr empor, entdeckte sie und sah sie ungläubig an.
»Ich bin es wirklich, und ich bin gekommen, um euch zu suchen und zu befreien.«
Songo lachte.
Haibe fuhr zusammen.
»Befreien?« lachte Songo. »Sieh meinen Fuß an! Mich kann nur noch die Eulengöttin befreien! Ich höre schon ihren Ruf in der Nacht. Aber sag mir, hast du meine Tochter gesehen, weißt du, ob Eire lebt?
»Es tut mir leid, Songo. Ich weiß es nicht. Seit dem Frühjahr suche ich nach euch, aber du bist die erste, die ich gefunden habe. Und sprechen kann.«
»So hat dieser Fuß doch sein Gutes! Ich werde nicht mehr so streng bewacht, seit er...« Sie sprach nicht weiter.
»Wie ist das geschehen?«
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