Die Göttin im Stein
Stimme hinter ihr. Sie drehte sich um, Wirrkon, der älteste ihrer Brüder, war von der Baustelle herübergekommen.
»Mit mir schon. Aber nicht mit dem Eimer! Er ist im Brunnen versunken. Das Seil ist gerissen.«
»Ich hab's gesehen!« Er lachte. »Wenn du ein neues Seil besorgst, hol' ich dir den Eimer wieder hoch.«
»Danke!« Sie nickte und wandte sich zum Gehen.
»Laß dir ruhig Zeit!« rief er ihr nach. »Ich bin froh über eine Pause!«
Das verstand sie nur zu gut. Wirrkon spaltete schon den ganzen Morgen gemeinsam mit Oheim Aktoll Baumstämme zu Brettern für die Verschalung des neuen Brunnens. Oheim Aktoll war der geschickteste Zimmermann im Dorf. Es mußte schwer sein, mit ihm mitzuhalten und im Gleichklang mit ihm Keile mit dem Beil ins Holz zu treiben.
Über die Schulter lächelte sie Wirrkon zu und ging am Haus von Oheim Ritgos Frau Songo vorbei auf das Haus ihrer Mutter zu. Aufatmend trat sie in den Schatten des Vorplatzes unter dem hohen, mit Rinde gedeckten Dach. Neben dem Mahlstein stand ein Körbchen mit Walderdbeeren. Rasch schob sie sich eine Handvoll in den Mund. Sehr klein waren sie wegen der großen Trockenheit – aber darum um so süßer.
Sie stieß die schwere Holztür auf, mußte sich dagegen lehnen, damit sie sich ganz öffnete. Naki trat ein, wartete, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und sah sich suchend um. Ihr Blick glitt kurz über das breite, mit einer Wolldecke zugedeckte Lager in der Ecke, über die Bänke an der Längsseite des Raumes, den Webstuhl, den Wollkorb, das Geschirr auf den Wandborden, die mit Steinen umgrenzte Feuerstelle und verharrte dann bei den vielen kleinen Gerätschaften, die an Holzpflöcken ringsum an den lehmverputzten, in roter Farbe mit den Zeichen der Göttin bemalten Flechtwänden hingen: den Steinbeilen und Flintmessern, Holzlöffeln und Käsesieben und vor allem den Lederriemen, mit denen die Ochsen ins Joch gespannt wurden. Ein langes Seil war nicht darunter.
Seufzend kletterte sie den Steigbaum zum Zwischenboden hinauf und sah sich um. Tongefäße und Körbe voll Getreide und anderen Vorräten, büschelweise Flachs, ein Haufen ungesponnener Wolle, ein zerbrochener hölzerner Pflughaken und vieles mehr. Könnte sie die Mutter fragen, wo hier ein Seil lagern mochte!
Die Mutter –
Heute war diese schon den dritten Tag im Grab. Ein kurzes Schaudern ließ Naki zusammenfahren.
Sie stieg vom Boden herunter, durchsuchte erfolglos den zweiten Raum des Hauses und betrat schließlich den dritten und letzten, die Töpferwerkstatt von Tante Gwinne. »Du bist ja hier!« sagte sie überrascht, als sie die Tante bemerkte. Vorhin noch hatte sie diese im Gemüsegarten angetroffen.
»Bei diesem Wetter trocknet der Ton so schnell aus«, erwiderte die Tante. »Er hat schon die richtige lederartige Festigkeit. Ich muß eben die Muster in die Becher ritzen, sonst ist es zu spät. Sei so gut, gib mir die beiden Stichel dort!«
»Wie du das machst«, meinte Naki bewundernd und beobachtete, wie die Tante ein Muster aus den heiligen Zeichen in den ebenmäßig geformten Becher grub. »Ich könnte das nicht.«
Die Tante lächelte. »Die Göttin gibt jedem andere Gaben.
Mir hat sie eben Hände gegeben, die den Ton zum Leben erwecken, damit jedes Gefäß, das meine Werkstatt verläßt, ein Sinnbild Ihres geweihten Leibes ist.« Sie hielt den Becher in die Höhe. »Siehst du die einladende Öffnung und das ausladende Rund – die weibliche Höhlung, Ursprung und Geheimnis des Lebens? Wann immer wir aus diesem Becher trinken, feiern wir damit Ihre Fruchtbarkeit. Und unsere eigene Weiblichkeit. Denn wir Frauen sind die Ebenbilder der Göttin.«
Naki nickte. Ihre Augen wanderten über die fertigen Gefäße auf den Wandborden. Weite Schalen, zierlich-dickbauchige Fläschchen, elegante Tassen, hohe Becher und rundliche Näpfe aus dunkel glänzendem, glattpoliertem Ton, deren weiß und rot leuchtende Muster nur von einem erzählten: der Heiligkeit der vielgestaltigen Göttin.
»Dir wird auch noch klarwerden, welche besonderen Gaben Sie dir gegeben hat«, meinte die Tante.
Naki zögerte. Sollte sie Tante Gwinne davon erzählen?
Da war diese Scheu, mit jemand anderem als Zirrkan darüber zu sprechen ...
Die alte Tante stöhnte.
Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, blauschwarze Schatten dunkelten um ihre tiefliegenden Augen. Die fahle Haut spannte über den vorstehenden Wangenknochen.
Seit Tagen hatte Tante Kjolje vor Schmerzen nicht mehr schlafen
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