Die Göttin im Stein
können, trotz der bitteren Tees aus betäubenden Pflanzen, die die Mutter ihr einflößte. »Nicht mehr lange, Tante Kjolje«, sagte die Mutter, Tränen erstickten ihre Stimme, »nicht mehr lang mußt du dich so quälen. Bald wird Zirrkan hiersein, ich habe nach ihm geschickt. Er wird deine Schmerzen lindern.«
Sie selbst, das Kind, trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich geh' ihm entgegen«, sagte sie und lief aus dem Haus, die Dorfstraße hinab, in den Wald.
Zirrkan, der Heiler. Erst dreimal hatte sie ihn im Dorf gesehen. Trotzdem mußte sie immer wieder an ihn denken. An seine Flöte. Seine Lieder. Seine Geschichten. Seine Trauer. Und sein stilles Lächeln, das sich auf die Menschen übertrug, mit denen er sprach, und auf die Dinge, die er berührte.
Alles war anders, wenn er da war.
Vor
allem die Mutter. In Zirrkans Gegenwart leuchtete die Mutter.
Und wie er den Muga geheilt hatte, als diesen beim Grabbau ein unsichtbarer Zauberpfeil getroffen hatte, so daß der Muga sich kaum mehr bewegen konnte!
Zirrkan würde der armen Tante helfen. Er mußte. Vor Ungeduld rannte sie.
Und dann sah sie ihn um die Wegbiegung kommen. Sie stürmte ihm entgegen.
Er hielt nicht die Arme auf, wie die Oheime und der Muga es taten, fing sie nicht auf, hob sie nicht in die Luft.
Er lächelte nur und nickte ihr zu: »Na, du!«
Dennoch war da wieder diese Vertrautheit zwischen ihnen. Als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, daß sie nebeneinander hergingen, miteinander schwiegen.
Er, der berühmte Heiler, und sie, das Kind.
Sie begleitete ihn ins Haus der Mutter, ans Lager der alten Tante.
Zirrkan begrüßte die Mutter. Einen Augenblick schien es, als seien die beiden allein im Raum. Dann wandte er sich der Tante zu, beugte sich über sie und sprach leise mit ihr.
Die Mutter reichte Zirrkan eine Schale mit Mehl. Zirrkan nahm etwas Mehl auf die flache Hand und blies es in die vier Winde. Dann malte er mit Mehl die Zeichen, mit denen die Göttin in der Gestalt der Großen Bärin verehrt wurde, auf den Boden und rief sie mit dem Lied seiner Trommel herbei.
Sie selbst beobachtete genau, was er tat, sah, wie sein Körper unwillkürlich zu zucken und sich zu schütteln begann, als die heilige Kraft in ihn fuhr. Und spürte, wie etwas im Raum sich veränderte.
Auf einmal war sie anwesend, zum Greifen deutlich: die Große Bärin.
Zirrkan legte die Trommel beiseite und ließ sich am Kopfende des Bettes nieder.
Eine Weile saß er ganz still da, mit geschlossenen Augen, die Hände vor den Lippen zusammengelegt. Dann nahm er behutsam den Kopf der Tante in seine Hände.
Die Gesichtszüge der alten Tante verwandelten sich, verloren das krampfhaft Verzerrte, wurden weich und gelöst.
Das wimmernde Stöhnen verstummte. Ruhig strömte der Atem der Kranken.
Und sie, das Kind, stand da und dachte: Das will ich auch einmal tun. So heilen wie Zirrkan.
»Was ist«, fragte Tante Gwinne, »solltest du nicht eigentlich am Brunnen oder im Gemüsegarten sein?«
»0 ja!« Naki schreckte auf. Wirrkon wartete auf sie! »Ich habe nur ein langes Seil gesucht.«
»Nebenan an der Wand über dem Bett. Die Mäntel hängen darüber!«
»Danke!«
Wenig später war Naki mit dem Seil bei Wirrkon. Er knotete es an der hölzernen Brunnenumrandung fest und schwang sich über den Rand.
»Paß bloß auf!« meinte sie, plötzlich besorgt, als sie beobachtete, wie er an dem Seih in den tiefen Schacht einstieg, die Füße gegen die eine Seite gestemmt, den Rücken gegen die andere.
Stück für Stück glitt er in die Tiefe. Mit angehaltenem Atem sah sie zu, wie er, über der Wasserfläche angelangt, nach dem Seil griff und wieder nach oben kletterte. »Schön kühl da
»Dann fürchte ich mich nicht davor!«
Er lächelte.
Doch woher sollte sie wissen, ob die Göttin sie berufen hatte?
»Naki, wo bleibst du so lang, meine Mutter wartet auf dich!«
Naki zuckte zusammen, blickte auf. Uori war an den Brunnen gekommen. Naki füllte den zweiten Ledereimer, ging in die Knie, nahm das Joch auf die Schultern, an dem die beiden Eimer hingen, richtete sich langsam auf und balancierte vorsichtig die Wassereimer zum Gemüsegarten. Rablu lief neben ihr her und versuchte die überschwappenden Wasserspritzer abzubekommen.
Der Vormittag verging mit Wassertragen. Es wurde glühend heiß. Naki atmete erleichtert auf, als die Tante sie ins Haus schickte, um den Brei für die Mittagsmahlzeit zu erwärmen.
Sie legte Holz auf die Feuerstelle und blies in die
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