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Die Göttin im Stein

Titel: Die Göttin im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Beyerlein
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er das Gebräu in sich hinein. Bald begann es zu wirken. Die Unruhe legte sich.
    Er holte seinen Dolch und einen Stift aus Lindenholz hervor und begann sorgfältig die handlange Dolchklinge zu schärfen, Mit äußerster Vorsicht drückte er mit dem Stift feinste Splitter von der hellen Flintklinge, zwang sich, an nichts anderes zu denken als an diesen kunstvollen Dolch, den er nicht verderben wollte. Endlich prüfte er sein Werk am Haar des Bärenfells, das die Bank bedeckte, und stellte zufrieden fest, wie scharf die Klinge geworden war. Sorgfältig steckte er den Dolch in die verzierte Scheide aus weißgegerbtem Leder zurück.
    Als sich die Männer des Hofes zum Mittagsmahl in seinem Raum versammelten, begrüßte er sie gelassen wie stets. Mit der gebotenen Würde brachte er das Trank- und Speiseopfer und führte beim Essen ein Hanges Gespräch über ein vielversprechendes Fohlen.
    Und dennoch war die ganze Zeit ein Teil von ihm draußen im Hof, am Mahlstein.
    Zwei Mägde reichten gebratene Äpfel zur Nachspeise, als Noedia ebenso eilig wie heftig in den Raum trat, rote Flecken der Erregung auf den Wangen.
    Er wußte, was geschehen war, ehe sie den Mund öffnete. Nur notdürftig kam Noedia der Sitte nach, die ihr verbot, ihn in Anwesenheit anderer Männer anzusprechen. Sie wandte sich ganz richtig an den rangniedrigsten der Männer, aber sie übertönte sein Gespräch mit einem unüberhörbaren: »Sag dem Herrn, daß ihm seine Nebenfrau davongelaufen ist!«
    Das war nicht einfach Erregung, was da aus ihrer Stimme sprach. Das war triumphierende Verachtung.
    Die Stille, die ihren Worten folgte, glich dem stummen Kräftemessen von Kriegern vor dem Zweikampf.
    Alle Blicke richteten sich auf Lykos.
    Noch immer gab niemand einen Laut von sich. Und doch spürte Lykos: Die Achtung seiner Hausfamilie – die unverzichtbare Grundlage seiner Herrschaft – hing an einem hauchfeinen Faden.
    Wenn er jetzt nicht unter Beweis stellte, daß er ihrer aller Herr war, würde er es nie wieder sein.
    Er stand auf. »Holt die Hunde!« befahl er den Männern. »Laßt sie Nakis Spur aufnehmen, und folgt ihr! Sie kann noch nicht weit sein. Ehe der Tag sich neigt, bringt ihr sie zurück an meinen Hof!
    Und nun zu dir, Noedia! Da du den Platz, der dir zukommt, nicht kennst, werde ich ihn dir zeigen! Wenn meine Braut ins Haus kommt, wirst du als die geringste ihrer Mägde ihren Befehlen gehorchen!
    Jetzt geht! Heute abend werdet ihr erleben, wie ich zu strafen weiß!«
    Die Männer murmelten eilfertig Zustimmung, Noedia erbhaßte, die Mägde zogen sich erschreckt zurück – kein Gedanke mehr daran, daß eben noch jeder von ihnen bereit gewesen war, seine Herrschaft in Zweifel zu ziehen.
    Mit einer knappen Handbewegung schickte er sie alle hinaus.
    Erregt durchmaß er den Raum: Wenige Schritte bis zur Wand, zurück.
    Er wußte, er hatte richtig gehandelt, seine erste Bewährungsprobe als Hausherr bestanden. Dennoch spürte er keine Erleichterung.
    Naki. Wie hatte er so wahnsinnig sein können, auf Güte zu setzen und auf Vertrauen! Sich von dem Weg der Väter abzukehren und zu meinen, es gäbe einen anderen, besseren!
    Er hatte ihr vertraut, und sie hatte ihn verraten.
    Er war gütig zu ihr gewesen, und sie hatte ihm den Gehorsam verweigert.
    Er hatte sie geliebt, und sie hatte ihn verhöhnt.
    Mit ihrer Flucht hatte sie alles in Frage gestellt: seine Macht, seine Herrschaft und seine Männlichkeit.
    Sie mußte sterben.
    Er umklammerte den Dolch.
    Vor der Öffentlichkeit seiner gesamten Hausfamilie mußte er sie töten, damit nie wieder jemand an seinem Hof es wagte, sich gegen ihn aufzulehnen.
    Er sah ihr Gesicht vor sich, ihr helles Haar, ihre hellen Augen.
    Kugenis Gesicht, Kugenis Haar, Kugenis Augen.
    Und ihren jungen Körper, nachts auf dem Bärenfell, rötlich schimmernd im flackernden Feuerschein –
    Er ließ sich auf die Bank fallen, vergrub seinen Kopf in den Händen, stöhnte.
    Er wollte es nicht.
    Er konnte es nicht.
    Nicht Naki.
    Lange saß er so, dann erhob er sich, straffte die Schultern und reckte den Kopf. Was für ein blinder Narr war er gewesen, zu wähnen, er könne auf die Weisheit der Väter verzichten und komme ohne ihre tausendfach erprobten Mittel aus.
    Entschlossenen Schritts ging er aus dem Haus und aus dem Hof, auf dem Weg bis zum Waldrand. An den Haselsträuchern blieb er stehen, suchte einen, der im Frühling des letzten Jahres bis auf den Stock zurückgeschnitten worden war und frisch ausgetrieben hatte ...
    Das

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