Die Göttin im Stein
seiner Lust nicht nachgebe, tut er ihr weh, das darf ich nicht zulassen, sie ist noch so klein, Tante Mulai, das kannst auch du nicht wollen, nicht daran denken, daß er es ist, es ist ein anderer Mann, irgendein anderer, einer von uns, Mutter, hilf mir. Irrkru, wenn er es wäre, ja, er ist es, es ist Irrkru –
Mit geschlossenen Augen ließ sie sich fallen in seine Umarmung.
Sein Kuß wurde weich. Er streichelte ihren Rücken, nahm ihr Ohrläppchen zwischen seine Lippen und knabberte sanft daran.
Irrkru, du bist zärtlich und doch so stark, halt mich fest, sei gut zu mir –
Lykos ließ sie los, zog sich den Kittel über den Kopf und band den Gürtel um.
Sie stand mit hängenden Armen da, hihflos verwirrt. Ein schweres Klopfen in der Brust, ein heißes Gefühl zwischen den Beinen.
»Schade, daß ich gehen muß«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Die fremden Worte, die sie mit Mühe verstand, brachen den Bann.
Brennend stieg ihr Scham in die Wangen.
Er
ist der Mörder deines Bruders!
schrie Tante Mulai. Sie stand gelähmt.
»Was ist los?« fragte Lykos.
»Schade, daß Ihr gehen muß, Herr«, erwiderte sie mühsam.
Er lachte.
Rasch warf sie sich ihr Kleid über und legte Lykos den schwarzen Mantel um.
Vor ihm her ging sie zur Tür, kein Blick zu dem großen Familienlager in der anderen Hausecke, auf dem Daires Familie schlief oder sich schlafend stellte, und stieß die Tür auf.
Klare Nacht. Der Vollmond stand hoch am Himmel. Zitternd atmete sie ein.
Hirschkuh, Bärin, Vogelfrau, steh mir bei. Was habe ich getan. Ich bin es nicht wert, deine Tochter zu sein.
Tief verbeugte sie sich vor Lykos, ergriff seine Hände, neigte ihren Kopf darüber und hauchte einen Kuß darauf.
Du küßt die Hände, die deinen Bruder ermordet haben. Du bist Abschaum! sagte die Stimme von Tante Mulai. Die Stimme von Oheim Ritgo bestätigte: Naki, es wird immer schlimmer mit dir.
Aber ich tu' es doch für Kori, ich muß es doch tun! verteidigte Naki sich stumm, holte gequält Luft und formte die Worte in Lykos' harter Sprache: »Ich danke Euch für Euern Besuch, Herr.«
Er griff in ihr Haar, hob ihr Gesicht. Langsam und deutlich sprach er, was sie längst zu verstehen gelernt hatte: »Bleib mir treu und gehorsam, Naki. Du weißt, was sonst geschieht.«
Die Drohung war eine Erleichterung: Er ist ein Unmensch, und ich schütze ein wehrloses Kind vor ihm. Da kann Tante Mulai sagen, was sie will.
»Ja, Herr, ich weiß«, erwiderte sie.
Er ließ sie los, ging zu seinem Pferd und schwang sich hinauf.
Sie öffnete das schwere Tor. Als sie ihn auf dem Weg davonreiten sah, der durch das Schwarzmoor zu seinem Hof führte, weinte sie.
Es war kalt. Dennoch blieb sie stehen. Sie wußte, an Schlaf war jetzt nicht zu denken.
Sie wandte das Gesicht zum Mond.
Mondin, Mondfrau. Hilf mir vergessen.
Du hast dich in seine Arme fallen lassen, und einen Augenblick war es nicht die Angst, war es nicht der Zwang! sagte Tante Mulais Stimme unerbittlich.
»Bitte nicht, Tante, sag das nicht«, bettelte Naki. Sie wandte ihr tränenüberströmtes Gesicht zum Himmel und flüsterte: »Mondin, du blickst so unerschütterlich. Du verbirgst dein Angesicht nicht vor mir. Du hast dich gerundet wie jeden Monat. Als wäre alles beim alten. Laß mich glauben, daß alles beim alten ist!
Daheim würden wir jetzt den Vollmondtanz tanzen.«
Gib zu, sagte die Stimme der Tante kalt, du hast dir einen Augenblick
gewünscht,
er würde dich –
»Nein!« schrie Naki laut und hielt sich die Ohren zu.
Verzweifelt dachte sie: Nicht auf Tante Mulai hören. Vergessen, was vorhin war. Nie mehr dran denken. Tanzen. Beten. Meine Rettung, meine einzige. Wenn die anderen den Vollmondtanz tanzen und wenn ich selbst tanze, dann sind wir darin vereint.
Sie hob die Arme.
Vorwärts schritt sie im Kreis, das Gesicht zur Zukunft gewandt: Weise mir den Weg, Große Mutter, den Weg, den alles Leben geht.
Rückwärts wandte sie sich im Voranschreiten: Hinter mir die Mütter und Ahnen. Laß mich wissen, woher ich komme.
In den Kreis hinein schritt sie: zur Mitte, zum Zentrum, zu Ihr.
Wieder wollte die Erinnerung sich aufdrängen, gleich würden wieder die Stimmen kommen, rasch begann Naki zu singen, sang die uralten Weisen, vertraut ihr Leben lang – und viele Leben zuvor.
Und die Lieder trugen. Sie vertrieben die Stimmen. Sie löschten alles andere aus.
Auf einmal, mit überwältigender Klarheit, war die Mutter neben ihr und tanzte mit ihr.
Mutter, dachte sie, unzählige Male
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