Die Göttin im Stein
Tränen von den Wangen. »Ich weine ja gar nicht! Es ist nur – ich hatte solche Angst um dich, ich habe nicht geglaubt, daß du noch einmal, so wie jetzt –« Lele brach ab.
Naki runzelte die Stirn. Die am Dachsparren zum Trocknen aufgehängten Marderfelle baumelten leblos. Die Augen in der Wolle waren verschwunden. Die Reisigbesen waren unbelebt. Nur noch zwei Besen. Den dritten –
»Lele, was ist mit dem dritten Besen?«
»Der Besen?« Leles Stimme klang erregt. »Hast du begriffen, warum Lykos den Besen zerbrochen hat? Weißt du, was das bedeutet?«
Naki schüttelte den Kopf. »Er hat geschrien, der Besen«, murmelte sie zögernd.
»Nicht der Besen hat geschrien, Lykos hat geschrien! Er war entsetzt, als er dich sah. Und als Daire ihm sagte, daß du von Dämonen besessen seist, da bekam er es mit der Angst. Diese Söhne des Himmels – sie haben eine Angst vor Dämonen, die ich nie verstehen werde!
Das ist unsere Rettung, deine Rettung, verstehst du?« »Nein. Ich – ich versteh' gar nichts.«
Lele drückte ihre Hand. »Ist ja auch nicht nötig, Naki. Du hast Zeit, viel Zeit.
Du mußt schlafen und essen und trinken und dich erholen und ruhig sein, ganz ruhig, er kommt nicht wieder, Naki, er hat sich von dir losgesagt, daß er den Besen zerbrochen hat, das war sein Zeichen der Trennung, er will nichts mehr mit dir zu tun haben, ein für allemal, hat er gesagt. Er fürchtet sich vor dir.«
»Du meinst – er kommt nicht wieder? Er will nichts mehr von mir?«
»Nichts mehr!« bestätigte Lele.
»Er wird mich nicht mehr – du weißt –«
»Bestimmt nicht! Er teilt doch mit keiner das Bett, die von Dämonen besessen ist, hat er gesagt!«
»Und, und, wenn die Wolle doch wieder Augen hat und die Besen Ohren und wenn die Marder ihm verraten, daß ich –«
»Ruhig, Naki, ruhig. Sei still, Liebes, ganz still. Niemand verrät dich. Niemand beobachtet dich. Es ist gut, alles gut.« »Und wenn er doch wiederkommt?«
»Dann passen wir auf dich auf. Dann sagen wir ihm, daß die Dämonen schreckliche Dinge mit dir anstellen. Und du nimmst einfach wieder die Spindel und wippst vor und zurück und tust so, als ob du ihn nicht siehst, und er wird glauben, daß du besessen bist, und sich vor dir fürchten, es ist ganz leicht, ihn zu täuschen, ich hab' es mit Daire und Irrkru genau abgesprochen, für den Fall, daß unsere Hoffnung doch noch in Erfüllung geht und du wieder ... Es wird uns gelingen, uns allen gemeinsam, glaub mir!«
»Aber wenn er merkt, daß ich die Göttin verehre, wenn er merkt, daß ich bete, ich darf doch nicht beten –«
»Und ob du beten darfst! Natürlich darfst du es! Er schert sich nicht mehr darum! Er schert sich nicht mehr um dich!
Hier, nimm deinen Stein! Spürst du sie, die Göttin? Bete, Naki, bete und tanze, tu es für dich, für dein Kind, für uns alle. Komm, steh auf, tanz mit mir, tanz!«
Lele zog Naki auf die Füße.
Schwankend stand Naki da. Fühlte den Stein in ihrer Hand. Sah zu dem Haufen ungesponnener Wolle: nur Wolle. Sah zu den Reisigbesen: nur Besen. Sah zu den Marderfellen: nur tote Bälger.
Keine Augen. Keine Ohren. Keine Stimmen.
Zaghaft hob sie die Hände.
Lele streckte die Arme in die Höhe und begann zu singen. Da fiel Naki in das Lied ein, sehr leise erst. Doch dann immer lauter.
Sie tanzten.
Die kalte Sonne glitzerte auf den Eisflächen und funkelte im Rauhreif auf den Wollgrasbüscheln, dem Ried und den Sträuchern.
Zirrkan legte einen Arm um Haibe und wies mit dem anderen in die Ferne: »Siehst du den flachen Hügel mit der Baumgruppe auf der Höhe? Dort findest du den Weg, den du einschlagen mußt, um das Moor und den Sumpf zu umgehen!
Für jetzt hatte ich auf den Frost gehofft. Bei unserer Schwerfälligkeit würden wir mindestens vier Tage brauchen, die Moor- und Sumpfflächen zu umgehen. Wenn wir uns über das Eis wagen, sind wir heute abend drüben. Ob es fest genug gefroren ist?« Er wandte sich zur Seite: »Was meinst du, Mutter?«
Die alte Priesterin hob die Schultern. »Ich bin weder eine Ried- noch eine Moorgängerin! Ich weiß nicht, ob das Eis trägt. Ich weiß nur: Wir kommen zu langsam voran!
Mit jedem Tag, den wir in Verzug geraten, steigt die Gefahr, daß wir die neue Heimat zu spät erreichen, um noch vor dem Frühling Wälder zu roden und um noch zur rechten Zeit das Getreide in den Boden zu bekommen.
Der Lauf der Gestirne, des Mondes und der Sonne schreitet unerbittlich voran.
Wenn du etwas tun kannst, um unseren Weg
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