Die Göttin im Stein
abzukürzen, so tu es!«
Zirrkan stöhnte auf. »So tu es!« wiederholte er bitter. »Seit wir aufgebrochen sind, bin ich es, der ununterbrochen Entscheidungen treffen muß!«
»Aber du bist der einzige, der den Weg kennt«, sagte Haibe und drückte seine Hand.
»Das meine ich nicht! Wer bin ich, daß alle mir so viel Verantwortung aufbürden? Früher wurden Entscheidungen gemeinsam besprochen, und niemand ...«
»Früher waren wir nicht auf der Flucht!« unterbrach ihn seine Mutter kurz angebunden. »Im übrigen hindert dich niemand daran, dich zu beraten und den Beschluß mit anderen zu fassen. Nur schnell muß es gehen!«
Zirrkan ließ Haibe los, straffte die Schultern und hob den Arm. »Die Männer zu mir!« rief er laut. »Prüft das Eis! Wir müssen entscheiden, ob wir uns über das Moor und den Sumpf wagen können!«
Sofort drängten sich Männer an den Rand des Moores, traten auf das Eis, stampften mit den Füßen, knieten nieder, legten ihr Ohr auf die Eisfläche und begannen zu beratschlagen.
Die Frauen unterdessen, froh um eine kurze Pause, in der sie sich um die Kinder kümmern konnten, wechselten die Windeln der Kleinsten, rieben frierende Füße der Älteren, ließen die Kinder die Hände an Steinen wärmen, die sie im nächtlichen Lagerfeuer erhitzt hatten und in Felle gewickelt mit sich führten, und teilten hartes Brot und die letzten Schlucke lauwarmen Tees aus.
»Weißt du, wo die alte Priesterin ist?« wurde Haibe von Corgli, einer jungen Frau mit verweinten Augen, angesprochen.
Haibe nickte und sah Corgli besorgt an. Corglis Schwester Wölai hatte in der Nacht ein Kind geboren, und es stand schlecht um sie. Die halbe Nacht hatte Zirrkan bei ihr ausgeharrt und vergebens versucht, den steten Strom des Blutes zu stoppen ...
Schweigend nahm Haibe Corgli bei der Hand und führte sie zur Priesterin. Fest, als suche sie Halt bei ihm, drückte Corgli ihr Baby an sich.
»Priesterin«, sagte Corgli stockend, »das Blut meiner Schwester fließt immer weiter. Wir wärmen sie, aber sie friert. Ich fürchte ...«
Die alte Priesterin nickte. Zu dritt gingen sie an den lagernden Menschen und Tieren vorbei bis zu dem von Frauen umringten Karren, auf dem Wölai unter Felldecken verpackt lag, ihr Neugeborenes im Arm.
Wölais Gesicht war bleich, ihre Lippen blaßbläulich, die matten Augen tief umschattet.
Die Priesterin beugte sich über sie. »Ich habe die Eule gehört«, flüsterte Wölai.
»Ja«, sagte die Priesterin leise, »sie ruft dich zu sich. Wie das Korn in die Erde gebettet wird, so kehrst auch du zurück in den Schoß der Erde, den heiligen Leib der Göttin. Doch so gewiß, wie aus dem Korn Halme wachsen, wirst auch du wiedergeboren werden von deiner Großen Mutter.
Es ist der ewige Kreislauf, Wölai. Ein Leben hat sie geschenkt, ein anderes fordert sie dafür. Dein Leben für das deines Kindes.«
Die junge Mutter nickte kaum wahrnehmbar. Dann irrten ihre Augen zu Corgli. »Du«, bat sie, »mein Kind ...«
Corgli weinte. »Ich werde es nähren und pflegen und lieben wie mein eigenes«, versprach sie.
Wölais Atem wurde schwach. Corgli legte sich neben sie auf den Karren, nahm sie in die Arme, bettete vorsichtig Wölais Kopf an ihre Brust.
Die Priesterin summte leise, kaum hörbar, das Sterbelied.
Ein leichtes Lächeln verwandelte das Gesicht der Sterbenden, ließ es leuchten – und fror darauf fest.
Haibe hätte den Augenblick nicht zu sagen vermocht, in dem Wölai ihren letzten Atemzug getan hatte.
Die alte Priesterin schloß Wölai die Augen.
Corgli löste vorsichtig das Neugeborene aus den Armen der Toten und barg es unter ihrem Mantel. Dann stieg sie wieder vom Karren und warf sich mit den anderen Frauen weinend über die Tote.
Die alte Priesterin stimmte das Totenlied an.
Haibe kniete auf dem gefrorenen Boden nieder und sang mit. Alle Umstehenden fielen in das Lied ein.
Naki, dachte Haibe plötzlich, wer wird dir beistehen, wenn du ein Kind gebierst?
Und wenn du dabei stirbst ...
Nein, du darfst nicht sterben, du mußt leben, ich suche dich, ich führe dich in die neue Heimat, warum dauert es so hange ...
Haibe stand auf, drängte sich durch die Trauernden und rannte zu Zirrkan.
Dieser nickte ihr zu: »Wir haben beschlossen, das Wagnis einzugehen! Das Eis scheint zu halten. Wir gehen in größerem Abstand und in weit gestreuten Gruppen. Mutter soll den Moorgeistern opfern, damit sie uns verschonen! Sag ihr Bescheid, Haibe, und den anderen auch!
Aber, was ist – du
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