Die goldene Barke
lehnten argwöhnisch und aufmerksam an der Mauer. Man hatte die Zahl der Soldaten erhöht, vielleicht wegen der Verfolgungsjagd des Vortages.
Er zog sich in die Schatten zurück, als sich einer umwandte und in seine Richtung blickte. Aber er war nicht schnell genug gewesen.
»He, du! Komm aus der Gasse raus und laß dich sehen!«
Tallow schluckte die Angst hinunter, die in ihm aufschoß, und rannte hastig den Weg zurück, den er gekommen war. »Ich könnte schwören, das war der rothaarige Zwerg, hinter dem wir her sind«, hörte er den Wächter seinen Freunden zurufen. »Cript, komm mit. Auf seinen Kopf ist eine Beloh
nung ausgesetzt.«
Tallow bestand jetzt nur noch aus Furcht. Sie hüllte ihn ein, beherrschte ihn, trieb ihn rücksichtslos von den schreienden Wächtern fort. Er floh.
Er floh drei Tage lang und wurde unbarmherzig gejagt. Er wurde zu einem furchtsamen Tier, das sich duckte und ängstigte, er verbarg sich in Abwasserkanälen, versteckte sich in den Häusern der wenigen Menschen, denen er trauen zu können glaubte. Doch Verrat ließ ihn immer wieder auf und davon rennen. Drei Tage brachte er mit Laufen und Fliehen zu. Es waren beschwerliche Tage, da er sich nicht erlauben konnte, in Schlaf zu fallen. Der kecke, selbstsichere, selbstsüchtige Tallow lernte kennen, was es hieß, von anderen abhängig zu sein, einem glattzüngigen Spitzel zu trauen und zu entdecken, daß der Mann Soldaten zu seinem Versteck führte. Tallow vergaß bald alles, abgesehen von seinem Bedürfnis zu entkommen. Eines Tages fand ihn dann Mesmers.
»Sie sind krank«, sagte Mesmers zu dem unrasierten, zitternden Elenden, der ihn anflehte. »Sie hätten mir zuhören sollen, mein Freund.«
»Ich werde Ihnen jetzt zuhören, ganz bestimmt. Retten Sie mich, verstecken Sie mich, mehr will ich nicht, Sir. Retten Sie mich. Ich hätte auf Sie hören sollen. Man hat mich verfolgt und auf mich geschossen. Ich bin getäuscht und verraten worden. Sie hatten recht, Mr. Mesmers, ach, Sie hatten recht, Sir. Bitte, verstecken Sie mich jetzt.«
Mesmers runzelte die Stirn, mochte nicht, was aus Tallow geworden war, mochte nicht, was ihn zu dem Wesen gemacht hatte, das er jetzt war. »Ich werde Sie verbergen, bis Sie gefahrlos gehen können«, sagte er. »Sie werden dann die Stadt verlassen.«
»Aber wenn man mich dabei faßt? Man wird mich töten. Mein Blut wird auf die Erde fließen. Ich werde sterben. Die werden mich wegen Ihnen, Sir, foltern. Die werden wissen wollen, wo Sie sich aufhalten, und werden mich dazu bringen, es zu verraten. Das werden sie tun, Sir. Ganz bestimmt. Retten Sie mich.« Tallow schluchzte schrecklich und klammerte sich mit schmutzverkrusteter Hand an Mesmers’ Gewand. »Wir werden sehen«, sagte Mesmers. »Aber zuerst müssen Sie sich ausruhen.«
Ein paar junge Männer, Anhänger des Predigers, traten auf einen Wink vor, packten Tallow, um ihn von dem alten Mann fortzuschleppen.
»Bringt ihn zu Bett, meine Freunde«, murmelte Mesmers und sah Tallow an. »Er soll schlafen. Später werden wir versuchen, ihn hinauszuschmuggeln. Soviel bin ich ihm schuldig.« Doch Tallow fiel es schwer zu schlafen. Mesmers oder einer seiner Anhänger blieb immer neben dem Bett Tallows und lauschte dem Stöhnen und Schreien, während Tallow die Schrecken der drei Tage in seinen Alpträumen noch einmal durchlebte. Tallow wachte manchmal kreischend und brüllend auf und mußte beruhigt werden. Unter Florums Herrschaft mußte man die Ruhe bewahren.
Mesmers versetzte Tallow mit seiner ruhigen Stimme und seiner überzeugenden Art in tiefen Schlaf. Mesmers verschaffte Tallow Heilung und verhalf dem kleinen Mann wieder zu ein wenig Selbstachtung, Selbstsicherheit. Mesmers baute wider besseres Wissen einen neuen Tallow nach dem Muster des alten auf, da er ohne neues Material keinen gänzlich neuen Tallow aufbauen konnte. Er gab Tallow die Keckheit zurück. Er gab Tallow das, was man ihm genommen hatte. Und er wußte, daß seine Gabe ein Samen war, ein Samen, der den Mann, den er jetzt rettete, beinahe zerstört hatte. Wäre Mesmers kein Optimist gewesen, er wäre der Verzweiflung anheimgefallen.
Tallow grinste bald wieder sein närrisches Grinsen, sein breitmäuliges, scharfzahniges Grinsen, sein Krokodilslächeln. Er setzte sich in dem Bett auf, in Mesmers’ Bett, und reckte
dem Prediger den Kopf entgegen.
»Ich danke Ihnen«, sagte er ohne Dankbarkeit. »Sie haben es gut verstanden, mich zu heilen. Jetzt sind wir quitt. Ich habe Sie
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