Die goldene Barke
rasselnde Lunge in seiner Brust versengt. Seine Arme waren unter dem Gewicht des besinnungslosen Mesmers matt geworden, seine Beine zitterten, sie wollten unter ihm zusammenbrechen und ihm den Dienst versagen.
Er gönnte sich jedoch nur ein paar Minuten Ruhepause, dann lud er sich den Prediger wieder auf und erklomm zwei weitere Leitern. Die letzte brachte ihn auf das Dach. Er zog die Leiter hinter sich hoch, legte sie vorsichtig auf die verdreckten Ziegel, ließ den Lukendeckel zufallen und klemmte ihn mit einem halb verfaulten Stück Holz fest.
Das Dach war von einer niederen Brüstung umgeben. Er taumelte hinüber und blickte in die Tiefe. Bis zur Straße hinunter waren es etwa achtzig oder hundert Fuß. Das Gebäude war von kleinen Punkten völlig umstellt.
Tallow hatte keine Zeit, lange nachzudenken. Er mußte weiter handeln, sonst gab es keine Rettung für Mesmers und ihn.
Zum nächsten Gebäude waren es vier oder fünf Fuß. Tallow wußte, daß er die Lücke, vor allem mit Mesmers auf dem Rücken, nicht überspringen konnte.
Da fiel ihm die Leiter ein. Sie war ungefähr sechs Fuß lang. Er schob sie über die Lücke. Er prüfte sie, so gut es ging, indem er sich vorbeugte und sein Gewicht auf die Hände verlagerte. Sie schien ihm nicht vertrauenswürdig, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Überquerung zu wagen.
Wieder legte er sich Mesmers, der zu stöhnen begonnen hatte, über die Schulter. Schwankend stieg er auf die Brüstung, wagte nicht, in die Tiefe zu blicken. Dann setzte er einen Fuß auf die Leiter und rannte hinüber. Er konnte sich später überhaupt nicht an die Überquerung erinnern. Da gab es nur die ersten Schritte hinüber, dann war er in Sicherheit und zog die Leiter zu sich.
Noch vier solche Abgründe überquerte er von Gebäude zu Gebäude, wurde sicherer, dann aber überkamen ihn Übelkeit und Müdigkeit, und er brach auf den schmutzigen Platten eines Daches zusammen. Sein Kopf lag dicht neben dem Mesmers’, und der alte Mann stöhnte, blinzelte mit den Augen, und seine alten, zarten Hände flatterten wie weiße Tauben an die Stelle, an der ihn Tallows Schlag getroffen hatte.
Tallow sah ihn an. »Wir sind gerettet«, wisperte er. »Ich habe Sie gerettet.«
Mesmers’ Stimme klang tadelnd, beinahe zornig. Er erwiderte: »Um welchen Preis, Tallow?« Das war alles. Er schwieg dann wieder. Sie blieben mehrere Stunden stumm, danach kam die Dunkelheit, und sie schliefen ein.
Tallow erwachte, als die Nacht dem Morgengrauen wich. Er reckte die schmerzenden Glieder und gähnte. Die kalte Morgenluft brannte im Hals und in den Lungen und belebte ihn. Mesmers war verschwunden.
Tallow brauchte einige Sekunden, bis er das begriffen hatte. Sofort raffte er sich auf und blickte sich auf dem ganzen grauen Dach um. Mesmers war nicht da, und die Leiter lag dort, wo Tallow sie am Vorabend niedergelegt hatte.
Eine Dachluke stand jedoch wie der Schnabel eines eben flügge gewordenen, überraschten Vögelchens offen, als äffe sie Tallows Gesicht nach.
Er ging zur Luke und starrte hinein. Er sah nichts als Schwärze. Verzweifelt zwängte er sich durch die Öffnung, hielt sich mit den Händen fest, ließ sich fallen und landete auf nackten Brettern. In dem Zimmer war niemand. Er schlich zur Tür und öffnete sie. Niemand. Das Haus war besser gebaut als jenes, in dem er die Flucht begonnen hatte. Draußen war ein Treppenabsatz, und Stufen führten in die Tiefe. Er rannte zur Treppe, sprang die Stufen hinab, kümmerte sich nicht mehr um den Lärm, den er verursachte. Man machte keine Türen auf, starrte ihm nicht nach. Das Haus hätte ebensogut leer sein können. Tallow polterte hinab, und niemand schenkte ihm Beachtung.
Als er den ersten Treppenabsatz erreichte, sah er Mesmers’ Gewand, das sehr schmutzig geworden war, im Ausgang zur Straße verschwinden. Er wagte nicht zu rufen, rannte ihm nach und erreichte ihn schließlich, als er um eine Ecke bog. »Wieso sind Sie davon, Mr. Mesmers?« keuchte er.
»Ich möchte nicht, daß Sie wegen mir wieder sündigen, Tallow«, versetzte der Prediger, ohne dem kleinen Mann einen Blick zu gönnen oder seine Schritte zu verlangsamen. »Aber, Sir, Sie brauchen mich doch. Sie brauchen mich. Wenn ich nicht wäre, hätte Florum Sie eingesperrt.«
»Ich brauche Sie nicht, Tallow. Sie haben sich lediglich mit
Erfolg eingemischt.«
Tallow versuchte, die Bedeutung von Mesmers’ Worten zu erfassen, und in seinem Kopf wirbelten verzweifelt Gedanken
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