Die goldene Barke
nicht einmal mehr daran erinnern, wie er sich in ihnen fühlte, und weiß nur, daß sie dem Geisteszustand vorzuziehen sind, in dem er sich jetzt endlich wiederfindet. Er segelt weiter und müht sich nicht mehr mit der Frage nach dem Warum ab.
Echos durchschwirren seinen Schädel und verspotten ihn. Diese kleine tragische Gestalt sieht noch immer Leichen. Wir können ihn nur auslachen und Mitgefühl empfinden. Gehören wir auch zu denen, die ihn verspotten? Wir haben sein Fortschreiten verfolgt. Ernsthaft? Spaßig? Zynisch? Gelangweilt? Verstört? Glücklich? Wie haben wir die Entwicklung dieses Idioten verfolgt? Die Streiche dieses Blinden? Den Kampf dieses Phantasten? Armer Tallow. Vielleicht hat er zuviel versucht?
Tallow segelt verzweifelt in chaotischem Wahnsinn weiter. Der Wind schwellt die Segel des Schiffes, das er sich am Kai aufs Geratewohl genommen hat. Das Schiff ist ganz anders als
die kleine Gorgon , mit der er lossegelte.
Der Wind bläst ihm ins Gesicht und ist Balsam für seine armen, überanstrengten Nerven. Er bemerkt, daß er die Zähne fest zusammenbeißt, und mit dem ersten zusammenhängenden Gedanken, den er seit Mirandas Tod hat, entspannt er bewußt die Muskeln und öffnet die Lippen, atmet die frische, reine Luft über dem Fluß ein. Sein Körper schmerzt ihn, und er hat keine Ahnung, wieviel Zeit verstrichen ist, seit er die unterbrochene Reise wieder angetreten hat. Er macht sich nicht einmal die Mühe, zur Sonne hinaufzuschauen, die auf ihn herabbrennt. Seine Umgebung nimmt er nur neblig verschwommen als grüne Landschaft und vor ihm als silbrig schimmerndes Wasser wahr.
Die Lungen liegen schwer in seinem Körper, die Brust ist beengt, und der Kopf tut ihm schrecklich weh. Manchmal murmelt er vor sich hin, die Worte sind ein sinnloses Plappern, durcheinandergeworfene Fetzen, ohne Inhalt, ohne Zusammenhang. Tränen glitzern auf seinem roten Gesicht und rinnen hinab auf die schiefe Nase und zu dem breiten Mund, dessen Lippen zum frostigen Grinsen eines Verrückten verzogen sind. Der elende und wahnsinnige Tallow hat die langfingrige rechte Hand auf dem Ruder seines Schiffes liegen und steuert es automatisch. Er segelt durch die goldenen Tage und die schlimmen schwarzen Nächte, fährt an Kleinstädten, Dörfern und großen Städten, an Bauernhöfen und Herrenhäusern vorbei und bemerkt nicht, daß sie vorübergleiten. Tallow schläft auf seine Art, und schließlich verläßt ihn das Fieber der Angst, und eines Morgens blickt er sich um und weiß, wo er ist und wem er folgt.
Kräftiger Regen peitscht stetig hernieder, und der Himmel ist grau und trüb. Der Regen fällt in den Fluß und mehrt das Wasser, und dieses umtost das Boot mit größerer Kraft.
Und jetzt fällt Tallow vornüber. Er bricht auf dem Boden seines Fahrzeugs zusammen und liegt im schmutzigen Wasser. Sein Atem geht keuchend, und das Wasser gurgelt um seinen Mund, um sein schmächtiges, ausgehungertes Gesicht. Er versucht, sich aus dem Wasser in die Höhe zu stemmen. Schließlich gelingt es ihm, seinen matten Körper über eine Sitzbank zu hieven. Dann erbricht er Flüssigkeit, die aus dem Magen aufsteigt, und verliert das Bewußtsein.
Vor Tallows Boot taucht jetzt eine Stadt auf. Es ist eine ruhige Stadt, eine friedliche Stadt voller Marmor und Mosaiken, voller grüner Rasenstreifen und stattlicher Menschen. Doch Tallow sieht die Stadt nicht, da er noch bewußtlos ist. Sein Boot treibt auf dem Fluß, einer Strömung ausgeliefert, die mit ihm spielt, es herumwirbelt und schaukelt. Ein großer Mann in einfachem, fließendem Gewand sieht das Boot und zeigt es stumm seiner Begleiterin, einer gleichaltrigen Frau mit ergrautem Haar und stillem Gesicht. Sie schaut ihn einen Augenblick an, und sie sprechen miteinander. Dann drehen sie sich rasch um und gehen schnell auf ein großes Gebäude am Kai zu. Wenige Augenblicke später stürzen Männer aus dem Gebäude und laufen mit weiten, elastischen Schritten hinunter an eine Stelle, wo ein Boot festgemacht ist. Es ist ein Ruderboot, ohne Motor, ohne Segel, und es ist schlank mit einem hohen, spitzen Bug. Sie klettern in das Boot und rudern hinter Tallows Schiff her, das die Stadt fast schon hinter sich gelassen hat.
Sie steuern ihr Boot geschickt an Tallows Schiff heran. Sie befestigen an diesem Taue und ziehen es zum Ufer hin. Sie sprechen kaum, und nur, wenn es nötig ist. Sie sind seltsame, schweigsame Leute, anscheinend selbstbeherrscht und auf einander eingestimmt.
Bald
Weitere Kostenlose Bücher