Die goldene Königin
habe, eines meiner Werke mit dem âºTâ¹ für Tours zu kennzeichnen. In Flandern war das zu jener Zeit bereits üblich, doch die Weber von Tours hatten sich das bislang nicht getraut. Und derzeit führe ich einen Prozess gegen einen Mann, der mir einen Wandteppich gestohlen hat. Ihm ist es gelungen, die Tatsachen so zu verdrehen, dass er nun behauptet, ich habe ihm den Teppich gestohlen.«
Properzia legte Alix mitfühlend ihre Hand auf die Schulter. Sie sah Alix forschend an, als wollte sie in ihrer Gefährtin alles entdecken, was diese ihr noch nicht erzählt hatte. Alix drehte noch immer die Zeichnung zwischen den Fingern.
»Wie könnte man ein solches Modell weben? Manchmal würde ich mich so gern über die Tradition der Webkunst hinwegsetzen.«
»Aber erfüllt die Renaissance diese Aufgabe denn nicht?«
Alix verzog verächtlich die Lippen. Sie neigte anmutig den Kopf und sah Properzia zweifelnd an. Offensichtlich war sie mit der Entwicklung der Dinge nicht zufrieden.
»Die Renaissance wird von männlichen Künstlern vorangetrieben. Nicht von Frauen.«
»Wer hindert Euch?«
Alix fing an zu lachen.
»Niemand.«
»Na dann! Worauf wartet Ihr?«
»Ich finde kaum Unterstützung. Mein Mann respektiert meine Ideen zwar, arbeitet aber gern an den traditionellen Szenen, die ich schon länger meide. Ich möchte mich von der altmodischen Webkunst, von den traditionellen Methoden lösen. Ich hätte gern, dass Nicolas, der Sohn meines zweiten Mannes, oder Louis, unser gemeinsamer Sohn, einen beeindruckenden, grandiosen Stil entwickelt.«
»Nun, fangt selbst damit an!«
»Ich glaube nicht, dass sie sich mir anschlieÃen.«
Properzia lächelte. Sie war entschlossen, Alix auf die eine oder andere Weise dazu zu bringen, sich der Herausforderung zu stellen.
»Und die Schwester von Mathilde?«
Alix nickte mit dem Kopf.
»Ja! Wenn sich jemand meinen Ideen anschlieÃt, dann ganz sicher Valentine.«
Properzia stürzte zu Alix und schloss sie in die Arme. Es war eine spontane, natürliche, überschwängliche Geste. Sie drückte sie so fest, dass Alix das Gefühl hatte, von ihrem Duft, ihrer Energie und ihrer Zuneigung überwältigt zu werden.
SchlieÃlich lieà Properzia von ihr ab und rief:
»Lasst uns anfangen. Ich gebe Euch Unterricht in männlicher Anatomie, und Ihr werdet bald aufsehenerregende Szenen weben.«
Sie arbeiteten mehrere Stunden ohne Pause. Hin und wieder führte Properzia Alix die Hand und zeigte ihr, wie man einen Gesichtszug, eine Form oder eine männliche Figur zeichnete.
»Vergesst Raffael und seine feinen klassischen Zeichnungen. Denkt mehr an den groÃen Leonardo da Vinci. Das Knie des Mannes muss genauso rund und die Wade ebenso geschwungen sein wie bei einer Frau. Nur kräftiger, fester. Da Vinci ist ein wahrer Meister.«
»Genau deshalb«, sagte Alix lachend, »hat er meine Millefleurs verschmäht. Aber das ist lange her.«
»Da Vinci lässt alles sichtbar werden. Seht, Alix, der Bauch von seinem Bacchus . Er hat zwei Falten, denen man mit dem Finger folgen und ihn in sie hineinschieben möchte, um zu sehen, wohin sie führen.«
»Das stimmt«, flüsterte Alix entzückt.
»Und erinnern die Schultern seines Heiligen Jérôme nicht an einen Gladiator? Möchtet Ihr nicht Eure Lippen darauf pressen? Auf diese warme glatte Haut?«
Plötzlich fasste sie Alix am Kinn und sah ihr tief in die Augen. Properzia hatte kleine Hände mit kurzen Fingern, ihr Zeigefinger und ihr Daumen waren kräftig.
»Habe ich Euch überzeugt?«
»Vollkommen. Ich glaube, ich werde die alten Entwürfe aus meinen Zeichnungen verbannen. Ich habe keine Lust mehr, immer dieselben Modelle zu zeichnen. Nur Pferde inspirieren mich noch genauso wie früher.«
»Verleiht ihnen eine stärkere Muskulatur. Lasst sie unter Euren Fingern lebendig werden. Die Pferde haben bebende Flanken, schäumende Mäuler und zerzauste Mähnen. Ihre Hufe schlagen auf den Boden, auch wenn es keine Streitrösser sind.«
Alix verstand.
»Von jetzt an werde ich sie so sehen.«
Ãberrascht stellte sie fest, dass die Dunkelheit hereingebrochen war. Sie hatte kaum wahrgenommen, dass Properzia einige Leuchter angezündet hatte, die Licht für ihre Zeichnungen spendeten. Mathilde kam ihr in den Sinn, und leise sprach sie ihren Namen
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