Die goldene Meile
du musst es wissen.«
»Ich gehe zurück zum anderen Bahnhof. Überhaupt ist das nicht dein Problem.« Sie zog Schenjas Sweatshirt aus und gab es ihm zurück. »Wieso vertraue ich fremden Leuten? Ich bin so dumm.«
»Wie willst du zurechtkommen?«
»Ich komme schon zurecht. Ich weiß, wie das geht.«
»Aber du kennst die Drei Bahnhöfe nicht.«
»Ich habe soeben einen Rundgang gemacht.«
»Und du kennst dich in Moskau nicht aus. Es ist vierundzwanzig Stunden her, dass du dein Baby zuletzt gesehen hast. Du brauchst keinen Suchtrupp mehr, du brauchst eine Zeitmaschine.«
»Das ist nicht dein Problem, oder?«
Sie ging in Richtung Straße, und als Schenja neben ihr hergehen wollte, schüttelte sie ihn ab. Sein Ehrgefühl verlangte, dass er sie im Blick behielt, selbst wenn das bedeutete, in demütigendem Abstand hinter ihr herzuzockeln.
Maja nahm die Fußgängerunterführung. Nach der Düsternis der Bahnhöfe war ihr das harte Licht willkommen, und der Anblick einer Gruppe von Jungen, die ihr vom anderen Ende her entgegenkam, war beruhigend. Es wunderte sie, dass sie so spät noch unterwegs waren, aber die Tatsache, dass sie sangen, gab ihr ein Gefühl der Sicherheit, und sie warf Schenja einen warnenden Blick zu, der ihn zurückweichen ließ.
Ein Tourist begleitete die Gruppe der Teenager. Er war betrunken und schlecht in Form; er lief wie in Zeitlupe und ruderte mit den Armen wie ein Marathonläufer, dem die Luft ausgegangen ist. Eine Designerbrille hüpfte auf seiner Nase. Quasten flatterten an seinen Schuhen. Die Jungen an seiner Seite trugen schmutzige Turnschuhe und gefundene Kleidung. Ein paar der älteren hatten eine Zigarette hinters Ohr geklemmt. Ein mageres Mädchen, unter dessen Mütze gelbe Dreadlocks hervorbaumelten, war auch dabei. In der Akustik des Tunnels wehte der Gesang sichtbar wie Rauchkringel heran.
»Beck in the Yuuessessaarr ...«
Der Betrunkene hatte genug damit zu tun, sich aufrechtzuhalten. Sein Haar war blutverklebt, und erdbeerrote Flecken leuchteten auf seinem Polohemd. Als er die Sicherheitsleute vor dem Laden sah, schrie er immer und immer wieder, er gehöre zur kanadischen Botschaft, als ob das irgendetwas bedeutete.
»Otvw luggee yuuaarr ...«
Die Sicherheitsleute wurden dafür bezahlt, einen Laden zu bewachen, und für nichts sonst. Der Kanadier wurde von einem Jungen weitergezogen, der alt genug für einen spärlichen Schnurrbart und die Attitüde der Autorität war. Er trug einen weißen Schal um den Hals, und in seiner fleischigen Hand hielt er einen abgesägten Billardstock. Maja ging weiter, als die Prozession näher kam; Raubtiere - ob Hunde oder Jungen - hetzten ihre Beute eher, wenn sie rannte.
Der Kanadier stolperte und fiel, und sofort stürzte sich die Meute auf ihn. Sie nahmen ihm die Armbanduhr ab und erleichterten ihn um Visum, Pass, Kreditkarten und Bargeld. Maja würdigten sie kaum eines Blickes, als wäre sie unsichtbar. Allerdings war es auch bekannt, dass man Rothaarige besser in Ruhe ließ. Sie hatte die Treppe fast erreicht, als der Junge mit dem Schal sich vor sie stellte.
»Toll, deine Haare.«
Jetzt bereute sie, dass sie sie gefärbt hatte. »Ich bin Jegor«, sagte er. »Wie heißt du?« Sie gab keine Antwort.
Jegor war nicht beleidigt. Er war mindestens sechzehn, bestand halb aus Babyspeck und halb aus Muskeln und hatte die richtige Figur, um andere einzuschüchtern. Als sie um ihn herumgehen wollte, versperrte er ihr mit dem Billardstock den Weg.
»Wo willst du hin?«
»Nach Hause.«
»Wo wohnst du? Ich kann dich hinbringen.« »Mein Bruder holt mich ab«, sagte sie. »Den würde ich gern kennenlernen.« Jegor spähte theatralisch umher.
»Er wird dir nicht gefallen.«
»Was ist denn los mit ihm? Ist er zu groß? Zu klein? Oder vielleicht schwul?« »Er wartet oben.«
»Das glaube ich nicht. Was meinst du, Stiefelchen?«
Das Mädchen mit der Mütze sagte: »Ich glaube nicht, dass es einen Bruder gibt.«
»Das sehe ich auch so. Ich glaube nicht, dass es einen Bruder gibt, und ich glaube auch nicht, dass du zum Zug willst. Ich glaube, du bist hier, um Geld zu verdienen, und in dem Fall brauchst du einen Freund. Möchtest du einen Freund?« Er schlang die Arme um Maja und drückte seine Hüften an sie, damit sie wusste, dass er etwas in der Hose hatte. Stiefelchens Lächeln wurde schal. Die anderen Jungen verstummten und glotzten mit offenen Mäulern.
Maja versuchte, Jegors Mund auszuweichen. Die Zeit mit dem Baby war nur eine kurze
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