Die goldene Meile
Kreta verrutschte, Rom zitterte, Tunis lehnte sich zur Seite, und Amsterdam kam hinterher. Während Rudd alles wieder zurechtrückte, schob Arkadi sein Handy in einen Umschlag - vorsichtig, um die Fingerabdrücke des Obersts nicht zu verwischen.
FÜNF
Schenja begriff nicht, warum Maja sich weigerte, mit der Miliz zu reden. Dies war eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen die Polizei nützlich sein konnte. Man musste nach dem Baby fahnden, man musste sein Bild in den Fernsehnachrichten zeigen. Stattdessen bestand sie darauf, die Nacht im Jaroslawler Bahnhof zu verbringen und Bahnsteigaufseher, Putzfrauen und Cafekellnerinnen auszufragen, während sie sich weigerte, zu sagen, wie sie hieß und woher sie kam. Je mehr Fragen sie stellte, desto mehr Misstrauen weckte sie.
Als Maja in den Hauptwartesaal ging, folgte er ihr, und sie schlängelten sich durch die Reihen der Schlafenden. Sie waren vorsichtig, denn Familien konnten die Absichten einer Fremden, die sich im Dunkeln über ihre Babys beugte, leicht missdeuten. Im oberen Wartesaal gab es den Konzertflügel hinter einer Samtkordel, aber kein Baby und keine Tante Lena, und als sie einen Blick in die Luxus-Lounge warfen, sahen sie nur Amerikaner und Topfpflanzen.
Als Maja zu taumeln begann, führte Schenja sie hinaus an die frische Luft. Um diese Zeit war es an den Drei Bahnhöfen still wie in einem Zirkus nach der Vorstellung, wenn das Zelt abgebrochen war und die Löwen in Gestalt von Lotus und Maserati frei herumliefen. An einem 24-Stunden-Kiosk kaufte Schenja einen Apfel und zerschnitt ihn für Maja mit dem Klappmesser. Maja aß ohne Appetit und hauptsächlich, weil er sie dazu drängte. Der Kiosk war eine Wodka-Tankstelle für Prostituierte.
Schenja beobachtete Prostituierte aus dem Augenwinkel, niemals direkt, und so hatte er nur einen unbestimmten Eindruck von verschmiertem Lippenstift, Blutergüssen und Netzstrümpfen. Auf Zuhälter achtete er genauer, und als er sah, dass mehrere von ihnen sich an Maja heranpirschten, führte er sie in die relative Sicherheit eines Taxistands.
Der Autoverkehr auf dem Platz verlief in beiden Richtungen fünfspurig, und die Nacht hallte wider vom Dröhnen ausländischer Autos, die in vollem Tempo aus dem Boden heraufzusteigen schienen.
Maja deutete quer über den Platz auf ein riesiges orientalisches Tor, dunkle Bögen und einen angestrahlten Uhrenturm.
»Ist das auch ein Bahnhof?«
»Der Kasaner Bahnhof. Ich finde, wir sollten doch meinen Freund anrufen.« »Den Polizisten?«
»Er ist Ermittler bei der Staatsanwaltschaft.« »Das ist dasselbe.«
»Er ist schon lange dabei. Vielleicht hat er ein paar Ideen.«
»Sag mir nur, wie ich da rüberkomme.«
Also nichts mit Arkadi, dachte Schenja.
Er brachte Maja zu einer Fußgängerunterführung. Über hundert Meter erstreckten sich flackernde Lichter und verrammelte Geschäfte. Tagsüber war dieser Tunnel eine Arkade mit lauter kleinen Läden, in denen man Telefonkarten, Blumen und Damenunterwäsche kaufen konnte. Der einzige Laden ohne Rollläden wurde von zwei uniformierten Wachleuten geschützt, die auf ihren Stühlen dösten.
»Wir können wieder herkommen, wenn mehr Leute da sind«, schlug Schenja vor.
»Ich suche mein Baby jetzt. Ich habe dich nicht um deine Hilfe gebeten. Du hast sie mir angeboten.«
»War ja nur ein Vorschlag.«
»Was ist los? Hast du hier unten Feinde?«
Schlimmer, dachte Schenja. Freunde.
Die Wartehalle im Kasaner Bahnhof erinnerte Schenja an das Gehege der Nachttiere im Zoo: schemenhafte Bewegungen und Tierarten, die kaum zu erkennen waren. Die Silhouetten da vorn - waren das Bucklige oder Rucksackreisende? War dieser bedrohliche Klotz ein Koffer oder ein Bär? Schenja hielt den Atem an, als Maja über das Riesengepäck fahrender Händler und die nackten Beine schlafender Touristen stolperte.
Das war mehr als verrückt, entschied Schenja. Es war vergeblich. Er drückte sich hinter einen Fotoautomaten und versuchte, Arkadi zu Hause anzurufen. Nach dem zehnten Klingeln gab er auf; manchmal ignorierte Arkadi Telefon und Anrufbeantworter. Schenja versuchte es auf dem Handy, aber es klingelte nur zweimal, bevor Maja ihm das Telefon aus der Hand riss.
»Ich habe gesagt, keine Polizei.«
»Aber so findest du dein Baby nie.«
»Bei der ersten Gelegenheit schleichst du dich weg und rufst sie an.«
»Du sollst nur einmal mit ihm reden.«
»Keine Polizei, haben wir vereinbart.«
»Er ist kein Polizist.«
»Polizist genug.«
»Okay,
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