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Die goldene Meile

Die goldene Meile

Titel: Die goldene Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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entgehen.«
    »Und wie! Aber ich bin pensioniert. Ein Zuschauer.«
    Arkadi lehnte ein freundlich angebotenes Glas Wodka ab, um seine Schlaflosigkeit nicht zu dämpfen. Es war drei Uhr morgens, und Schlaflosigkeit war alles, was ihn noch auf den Beinen hielt.
    »Ich habe zwei schwere Herzinfarkte überlebt«, sagte Willi. »Ich habe Angina pectoris. Einen Blutdruck, der einen Kanaldeckel hochheben könnte. Ich kann schon umkippen, wenn ich mir nur die Nase putze. Also vermeide ich jede Hast.«
    »Was sagen die Ärzte?«
    »Ich soll abnehmen. Nicht rauchen und nicht trinken. Und mich nicht aufregen. Sex? Ich habe meinen Schwanz schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Manchmal finde ich ihn nicht mal. Möchtest du lieber Sekt? Ich habe welchen in eins der Kühlfächer gelegt.«
    »Nein, danke. Und du bist wirklich hier eingezogen? Hast du das mit dem Direktor abgesprochen?«
    »Der Direktor ist ein aufgeblasener Fatzke, aber im Grunde seines Herzens kein schlechter Kerl. Er hat einen unbenutzten Wirtschaftsraum mit einem Sofa für mich gefunden. Ich soll keine Autopsien mehr durchführen, denn wenn ich mittendrin den Geist aufgebe, könnte das den Eindruck erwecken, er habe den Laden nicht im Griff. Und du willst nicht nur eine Autopsie, sondern du willst sie auch sofort.« Willi wischte sich ein Alkoholrinnsal vom Kinn. »Meine Ärzte wollten mich in meine Wohnung einsperren. Wozu? Damit ich dort vor mich hin vegetiere? Allein auf dem Sofa hocke und den Idioten im Fernsehen zuschaue, bis ich abkratze? Nein, das hier ist eine bessere Lösung. Hier kann ich immer noch mit Kleinigkeiten zur Hand gehen. Teil der Gesellschaft bleiben. Freunde kommen vorbei; manche leben, manche sind tot, und wenn ich umfalle, braucht man keinen Krankenwagen zu rufen, denn ich bin schon da.«
    »Dafür müsste man dir doch dankbar sein.«
    »Sie haben das Haus abgerissen, in dem ich gewohnt habe, um Platz für einen Wellness-Club zu machen. Die glauben, sie werden ewig leben. Da steht ihnen noch eine hübsche Überraschung bevor.«
    Hier schien es eine Warteschlange zu geben. Auf einem Tisch lag ein junger Mann, so ausgeblutet, dass er weiß wie eine Marmorstatue war, auf einem andern ein gegrillter Torso von unbestimmbarem Geschlecht und auf dem nächsten ein aufgeblähter Leichnam, der den letzten Lacher hatte: Seine Fürze rundeten den allgemeinen Geruch von faulem Fleisch und Formaldehyd ab. Arkadi zündete sich eine Zigarette an und zog so heftig daran, dass die Tabakglut Funken sprühte, und trotzdem blieb der Geschmack von Galle in seiner Kehle.
    »Hör ihn dir an.« Willi deutete auf den flatulenten Toten. »Klingt, als lernte er Klarinette spielen.«
    »Bist du jetzt Musikkritiker?«
    »Wenn man mich bei einer Autopsie erwischt ...«
    »Was könnten sie dir noch tun? Du wohnst doch schon in einem Wandschrank. Sollen sie dir als Nächstes einen Hundenapf geben? Was ist denn aus Doktor Willi Pasenko geworden? Was ist aus Belmondo geworden?«
    »Belmondo ...« Willi hing seinen Erinnerungen nach.
     
    »Du weißt nicht, was für ein Glück du hast.« Willi reichte Arkadi eine Gummischürze und ein Paar OP-Handschuhe. »Unsere Assistenten sind Tadschiken oder Usbeken, und wenn die wegen einer Hochzeit einen Tag freinehmen, benutzen alle anderen das als Entschuldigung dafür, dass sie zu spät kommen. Normalerweise brummt's hier. Die Tadschiken werden alles übernehmen. Die machen die ganzen Stahlarbeiten im Hochbau. Ein leichtfüßiges Volk. Aber wie würde es dir gefallen, vom hundertsten Stock hinabzustürzen? Bleibt einem unterwegs viel Zeit zum Nachdenken.«
    Arkadi wies die OP-Maske zurück. Masken wurden feucht, und gegen den Geruch halfen sie nicht. Außerdem benutzte Willi auch keine. Kaum war er wieder im Geschirr, war er völlig souverän.
    »Bist du noch Jungfrau?«, fragte er Arkadi.
    »Ich war schon mal dabei.«
    »Aber du hast dir nie die Hände schmutzig gemacht, sozusagen?« »Nein.«
    »Für alles gibt's ein erstes Mal.«
    Der externe Teil der Autopsie von Vera X. bestand in der Suche nach kennzeichnenden Merkmalen und Traumaspuren: nach Muttermalen, Leberflecken, Narben, Nadelstichen, Hämatomen, Schürfwunden, Tätowierungen. Willi füllte während der Arbeit eine Tabelle mit der schematischen Darstellung eines Körpers aus.
    Arkadis Aufgabe war einfach: Er bewegte Vera nach Willis Anweisungen. Er hob die Leiche hoch, verschob und verdrehte sie, während Willi eine Wimper und eine Haarlocke abschnitt, unter ihren

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