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Die goldene Meile

Die goldene Meile

Titel: Die goldene Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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Schonfrist gewesen, eine Periode der Normalität, die als sinnloser Beitrag zum Elend der Welt geendet hatte. Wer war sie, dass sie sich wehrte? Die Scheiße, die jetzt passierte, hatte sie verdient.
    »Sie gehört zu mir.«
    Niemand hatte bemerkt, wie Schenja herangekommen war. Jegor ließ Maja los.
    »Das hätte sie sagen sollen. Sie hätte nur sagen müssen: >Ich gehöre zu dem Genie.< Wie heißt sie denn?«
    »Geh zur Straße hinauf«, sagte Schenja zu Maja.
    »Wo ist das Problem?«, fragte Jegor. »Ich habe nur nach ihrem Scheißnamen gefragt.«
    »Ich sag dir Bescheid, wenn sie einen Namen hat.«
    »Hast du sie gern? Hat sie dich auch gern? Wie gern hat sie dich denn? Sagen wir, dir einen runterholen, das ist >gernhaben<, und anal ist >Liebe<. Wo steht sie auf dieser Skala? Stiefelchen würde alles für mich tun.«
    »Da hast du aber Glück.«
    »Du hast ein solches Pokergesicht, dass ich nie weiß, wann du mir recht gibst und wann du mich verarschst. Wir sind wie Brüder. Die verschissene Welt bricht auseinander. Da sollten wir zusammenhalten, du und ich.«
    »Lass die Finger von ihr.«
    »Okay. Aber wenn du ein Held sein willst, wird dich das was kosten«, schrie Jegor, als Schenja die Treppe hinaufging. »Und einen Rat gebe ich dir noch. Du bist vielleicht supergescheit, aber da, wo es drauf ankommt, bist du nicht groß. Sie wird einen Schwanz brauchen. Einen richtigen Schwanz.«
    »Dein Schal ist nass«, sagte Schenja.
    Völlig durchnässt, merkte Jegor jetzt.
    »Scheiße, was ist das?«
    Die allgemeine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als der Kanadier wieder zu sich kam und mit unerwartetem Tempo zum Ausgang sprintete. Die Jungen rannten ihrer Natur entsprechend hinter ihm her wie kleine Hunde hinter einem Ball und gröhlten: »Be-be-be-beck in the Yuuessessaarr!«
     
    Schenja führte Maja über einen Hof mit Mülltonnen und Katzen zu einer Ladebucht, deren Tore mit Rollläden verschlossen waren. An einer Hintertür daneben blinkte das Messing eines neuen Tastenfelds. Schenja tippte die Kombination ein, die Tür öffnete sich, und er schob Maja in einen Lastenaufzug. In pechschwarzer Finsternis fuhren sie zwei Stockwerke nach oben. Sie klammerte sich an seinen Ärmel, und er zog sie durch eine Schwingtür und die Falten eines Samtvorhangs in einen Raum, der sich nach und nach als eine Landschaft aus Staubschutzlaken und Pappkartons entpuppte, bewacht von einem Riesen, der sein Cape zurückschlug, um den Säbel zu ziehen.
    »Willkommen im Kasino >Peter der Große<«, sagte Schenja, aber wenn er mit einem Dankeschön gerechnet hatte, sah er sich enttäuscht. Er ließ den Lichtstrahl einer Minitaschenlampe über die Glasaugen und den Dreispitz der Figur wandern. »Sieht ihm ziemlich ähnlich.«
    Aber sie schaute überhaupt nicht hin. Schenja konnte nicht erkennen, ob sie lachte oder weinte oder ihre Wut im Zaum hielt, bis sie in zutiefst resigniertem Ton fragte: »Kannst du mir ein Handtuch besorgen? Ich bin klatschnass.«
    Er wartete vor der Damentoilette, während sie sich wusch. Eingedenk ihres Rasiermessers schwatzte er die ganze Zeit sinnlos durch die Tür.
    Sie hörte nicht zu. Als sie sich gewaschen und ihr T-Shirt ausgespült hatte, schaltete sie das Licht aus, setzte sich auf einen gepolsterten Schemel und wiegte sich vor und zurück, langsam, wie in einem fahrenden Zug.
     

SECHS
    Massig und unrasiert schlurfte Willi Pasenko im Leichenschauhaus herum wie ein Wollhaarmammut in einem OP-Kittel. Zwischen seinen Lippen hing eine Zigarette, und er hielt ein Glas Äthanol in der Hand. In der Schule hatten sie ihn Belmondo genannt wegen seiner Angewohnheit, wie der französische Schauspieler zu qualmen. Arkadi und er waren in dieselbe Klasse gegangen. Jetzt sah Willi zwanzig Jahre älter aus.
    »Ich kann das nicht tun. Ich bin dem nicht mehr gewachsen. Anordnung meines Arztes.«
    »Du könntest das mit verbundenen Augen.« Willi schwenkte das Glas über die Leichen.
    »Glaubst du nicht, dass es mir in den Fingern juckt?« »Ich weiß es.«
    »Was hier manchmal an Arbeit herauskommt - du würdest es nicht glauben. Metzgerarbeit im Metzgertempo. Ein richtiges Schlachthaus. Sie graben Herz und Lunge heraus, schlitzen die Kehle auf und ziehen die Speiseröhre heraus. Ohne Finesse. Ohne Analyse. Einmal mit der Säge um den Schädel. Raus mit dem Hirn. Raus mit den Organen. Eintüten, wiegen, und ab damit zwischen die Knie. So schnell kriegt man kein Kaninchen bratfertig.«
    »Da muss ihnen doch vieles

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