Die goldene Meile
Bahnhöfen abzusagen, aber Viktors Handy war abgeschaltet. Er versuchte, Schenja anzurufen. Schenja meldete sich nicht, und Arkadi musste feststellen, dass die Nummer, die er von Eva hatte, nicht mehr gültig war. Somit war die letzte Möglichkeit der Kommunikation mit ihr erlosehen. Aber wahrscheinlich war die Verbindung zwischen ihnen schon vor langer Zeit abgebrochen, und er hatte nur noch mit Echos gesprochen.
Bei geschlossenen Vorhängen glich die Wohnung einem Isolationstank zur sensorischen Deprivation. Ein so weinerlicher Tag lud zu Selbstmitleid und Suizidgedanken ein. Doch Arakdi war nicht mit dem Herzen dabei. Die tiefschwarze Stimmung, die Tunnelsicht, die zur Selbstvernichtung nötig war, fehlten. Der Junge im Leichenschauhaus, der sich hatte ausbluten lassen, bis er weiß wie Alabaster war, der hatte das richtige Engagement gezeigt. Er verdiente mehr als die wegwerfenden Abschiedsworte seiner Mutter: »Verbrennen Sie ihn.«
Was ihn selbst anging, dachte Arkadi, würde Surin wahrscheinlich viel zu erfreut sein, wenn er sich den Schädel wegbliese.
Es klopfte an der Tür. Arkadi vermutete, der Ermittler, der den Brief abgeliefert hatte, habe jetzt den Mut gefunden, zurückzukommen und Arkadis Pistole und seinen Dienstausweis einzufordern. Aber als er die Tür öffnete, prallte ihm eine rot-weiße Sporttasche gegen die Brust. Anja Walidowa stand vor ihm. Sie trug denselben schwarzen Leinenanzug wie in der vergangenen Nacht, nur war ihr Gesicht jetzt von nassem Haar umrahmt, und das Leinen war zerknittert wie Crepe.
»Sie sind ein so selbstgefälliger Mistkerl«, sagte sie. »Wovon reden Sie?« Arkadi zog ein T-Shirt über.
»Was, glauben Sie, ist in der Tasche?« »Als ich das letzte Mal hineingesehen habe, Geld.«
»Wie viel?« »Das geht mich nichts an.«
»Mehr als hunderttausend Dollar in bar. Jetzt ist nichts mehr da. Die Miliz hat alles genommen, weil Sie uns nicht helfen wollten. Sie sagen, sie brauchten einen Nachweis der Eigentümerschaft. Unsere Kreditkartenbelege akzeptieren sie nicht. Es hätte genügt, wenn Sie die Tasche mitgenommen hätten. Das haben Sie nicht getan. Jetzt schulden Sie mir hunderttausend Dollar.«
»Holen Sie es sich von Sascha. Er ist der Milliardär.«
»Er hat keine Schuld daran. Die haben Sie.«
Jetzt erst wurde Arkadi bewusst, dass Anjas Kleider nass waren. Wahrscheinlich hatte sie überhaupt nicht geschlafen. Wenn er erschöpft war, musste sie völlig erledigt sein.
»Wir reden darüber«, sagte er. »Ziehen Sie sich was Trockenes an, und dann reden wir.«
Allerdings gab es da ein Problem. Die Miliz hatte den Schlüssel zu ihrer Wohnung konfisziert, um dort nach weiteren Sporttaschen voller Geld zu suchen. Wenn sie eine hatte, warum nicht auch mehr? Und sie hatten den Schlüssel behalten für den Fall, dass sie zurückkommen und die Wohnung noch einmal durchsuchen wollten.
»Ich bin ausgesperrt«, gestand Anja.
Das wäre eine exzellente Gelegenheit für Selbstgefälligkeit gewesen, aber Arkadi ließ sie verstreichen.
Sie waren erwachsene Menschen. Um in der Wohnung eines Freundes unterzukommen, würde Anja mindestens eine Stunde brauchen. Selbst wenn Arkadis Wohnung der letzte Ort auf Erden war, den sie betreten wollte, sagten ihr logisches Denken und ein heftiger Zitteranfall, dass ihr nichts anderes übrig blieb. »Bitte«, sagte er.
Sie zierte sich nur kurz, dann verschwand sie im Badezimmer und schloss die Tür hinter sich. Verdattert setzte er sich hin. Ein Mann und eine Frau finden sich gegen ihren Willen zusammen in einer Wohnung wieder. Sie haben kein Interesse aneinander - warum also sollte es zu sexuellen Kontakten kommen? Dazu käme es ja auch nicht, wenn es sich um einen männlichen Kollegen handelte. Es war eine Pro-forma-Phantasie. Aber als sie duschte, konnte er sie nicht nur hören, er spürte die heißen Nadelstiche des Wassers in ihrem Nacken, auf ihrem Rücken, an ihrem Bauch. Er zündete sich eine Zigarette an und goss sich ein Glas Wodka ein.
Dann reichte er ihr Kleider durch den Türspalt, die Eva in einem Koffer unter dem Bett hinterlassen hatte. Aber als Anja herauskam, trug sie eins seiner Hemden mit aufgekrempelten Ärmeln.
»Schlimm genug, dass ich hier bin. Ich werde nicht noch die Kleider einer anderen Frau anziehen.«
Das Hemd reichte ihr bis auf die Knie. Ihm fiel kein Kompliment ein, das dieser Situation angemessen gewesen wäre.
»Wie auch immer. Ich muss jetzt erst mal schlafen.«
»Nehmen Sie das Bett. Mir
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