Die goldene Meile
tun, als auf der einen Straßenseite hinauf- und auf der anderen wieder hinunterzulaufen. Er musste darauf achten, dass er nicht unter eins der Autos geriet, die mit hohem Tempo aus dem Kreisverkehr kamen, und er flitzte zwischen denen hindurch, die langsam durch die Nebenstraßen rollten. Er war es nicht gewohnt zu rennen. Daran war Arkadi schuld; er war ein schlechtes Vorbild. Bei seiner zweiten Runde wurden die Häuserblocks länger, und die Luft war dünner. Taumelnd kam er zum Stehen, und erst dann bemerkte er, dass der Volvo-Kombi mit ausgeschalteten Scheinwerfern dicht hinter ihm war. Egal. Er konnte keinen Schritt weiter.
Der Beifahrer stieg aus und hielt ihm die hintere Tür auf. Er wartete, bis der Junge wieder zu Atem gekommen war. »Wo ist sie?«
Schenja war in tausend Schachpartien nie in Panik geraten. Vor einem Schachbrett kamen ihm jederzeit unzählige Fluchtszenarien in den Sinn, doch der Mann hatte seinen Arm in einem Klammergriff, der seinen Bizeps in zwei Hälften teilte.
»Ich weiß überhaupt nichts.«
»Dann brauchst du dir auch keine Sorgen zu machen.«
Er wollte Schenja auf den Rücksitz stoßen, als ein älterer Junge schlitternd neben dem Volvo zum Stehen kam und rief, sie hätten den Falschen erwischt. Das Mädchen, das sie suchten, sei zwei Straßen weiter mit einem Zuhälter namens Jegor unterwegs.
Schenja existierte für die Männer nicht mehr. Unversehens saß er auf dem Randstein, zitternd vor neu entdeckter Furcht und Selbsthass.
NEUNZEHN
Arkadi schlief luxuriöse zwei Stunden lang und wäre noch länger im Bett geblieben, wenn die gedämpften Geräusche an der Wohnungstür nicht gewesen wären.
Ursprünglich hatte die Wohnung offene Kamine gehabt. Sie waren zugemauert und unbenutzbar, aber das Kaminbesteck war noch da, und Arkadi wählte einen Schürhaken. Nur mit seiner Pyjamahose bekleidet riss er die Tür auf und sah einen der aufstrebenden jungen Männer aus dem Büro des Staatsanwalts, der auf den Knien lag und versucht hatte, einen Brief unter der Tür durchzuschieben. Der aufstrebende junge Mann sah den Schürhaken, sprang auf und rannte die Treppe hinunter.
Der Brief war handgeschrieben. Das zeigte, dass Arkadi dem Staatsanwalt wichtig war. Es war typisch, dass Surin jemand anderen eingespannt hatte, um den Brief zuzustellen, einen der Burschen, in deren Augen Arkadi so antik und unberechenbar war wie eine geladene Arkebuse.
»Kündigung aus wichtigem Grund ... Mangel an Urteilskraft ... Infragestellen und Untergraben der Ziele ... Fälle konstruiert ... Missachtung des Dienstweges ... jede Gelegenheit gegeben ... zum Handeln gezwungen ... Ausdruck des tiefsten Bedauerns ... Ihre Dienstwaffe und Ausweis.«
Surins Unterschrift war doppelt so nachdrücklich und doppelt so groß wie sonst.
Arkadi schaltete den Fernseher an. Sascha Waksberg kam gleich zu Anfang in den Nachrichten. Wie hätte es auch anders sein sollen? Ein berühmter Milliardär bringt eigenhändig einen Möchtegern-Attentäter um? Und nicht einen simplen Attentäter, sondern einen, der als Märchenfigur verkleidet ist? Ein Polizeisprecher deutete feierlich auf die Dellen, die die Kugeln auf Kofferraum und Kotflügel hinterlassen hatten. Pech für die Kameras, dass der Regen das Blut weggespült hatte.
Arkadi schaltete den Apparat wieder aus. Es war ein Fall von der Sorte, die man in der Petrowka mit zwiespältigen Gefühlen betrachtete. Drei Leichen trieben die Verbrechensrate in die Höhe; daran war nichts zu deuteln. Andererseits verbesserten sie auch die Aufklärungsquote, die in letzter Zeit stark zu wünschen übrig ließ. Die lästige Frage blieb, warum Waksbergs Fahrer die Baustellenabsperrung ignoriert und auf der unfertigen Straßenbrücke geparkt hatte. Aber der Mann war tot, und es war nicht wichtig. Man durfte die Sache nicht kompliziert machen.
In seinem Kündigungsschreiben hatte Surin jedoch behauptet, Arkadi habe »Fälle konstruiert«. Übersetzt bedeutete das, der Staatsanwalt schloss ganz allgemein Fälle ab, in denen Arkadi ermittelte, und speziell den mit der Toten im Bauwagen bei den Drei Bahnhöfen. Vergiss die obszöne Pose und den Äther in der Lunge. Der Leichnam war zu Asche verbrannt, und alles, was von Vera Serowa noch übrig blieb, war ein Totenschein, der aus einer Akte mit der Aufschrift »Offene Mordfälle« in eine mit der Aufschrift »Abgeschlossene Fälle« verschoben wurde.
Also war es aus damit. Arkadi rief Viktor an, um das Treffen bei den Drei
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