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Die goldene Meile

Die goldene Meile

Titel: Die goldene Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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nach ihr sehen sollte, versteckte sie sich lieber, statt sich in Lumpen zu zeigen.
    Seit sie sechs Jahre alt war, hatte sie die Aufgabe, die Käfige und den Hundezwinger sauber zu machen. Gefüttert wurden die Hunde von ihrem Vater. Sein Credo lautete:
    »Der mit dem Futter ist ihre Mutter.« Und dann torkelte er in seinem Schutzanzug aus Plastik und einer Flasche Wodka in der Hand hinaus und richtete sie zum Angreifen ab. Weil sie keine Spielgefährten und auch sonst nur wenig zu tun hatte, verbrachte Itsy viele Stunden mit den Hunden; sie spielte mit ihnen oder lag einfach mit ihnen herum. Jeder Hund war eine Persönlichkeit für sich. Eigentlich sollten die Hunde in ihren eigenen Käfigen getrennt gehalten werden, aber Itsy ließ sie zusammen, und ihre Augen folgten ihr bei jeder Bewegung.
    Eines Abends im Winter kam ihr Vater früh nach Hause, betrunken und zerschlagen - der Unterlegene bei einer Prügelei auf der Straße, der seine Wut nicht hatte austoben können. Er sah, dass die Hunde frei um Itsy herumliefen. Die Hunde witterten seine Laune und drängten sich um sie. »Ihr knurrt mich an?« Er zog seinen Gürtel aus der Hose und brüllte: »Aus dem Weg!«
    Vielleicht hätte er die Meute einschüchtern und unter Kontrolle bringen können, wenn Itsy nicht dabei gewesen wäre und wenn der erste Schlag mit dem Gürtel nicht einen blutigen Striemen auf ihrer Wange hinterlassen hätte. Gerade hatte er noch gestanden, aber im nächsten Augenblick sah man nur noch zwei strampelnde Beine inmitten einer rasenden Meute. Itsy hätte die Hunde nicht aufhalten können, selbst wenn sie es versucht hätte.
    Nachher, als die Hunde keine Lust mehr hatten, die Leiche ihres Vaters hin und her zu zerren, brachte sie jeden in seinen Käfig. Sie wusch und trocknete das blutige Geld, das sie in der Hosentasche ihres Vaters fand, und zog so viele Kleider an, wie sie konnte. Er war zu schwer für sie; sie konnte ihn nicht von der Stelle bewegen, und der Boden war zu hart, um auch nur ein flaches Grab zu schaufeln.
    Ihre Mutter hatte die ganze Zeit geschlafen. Itsy hätte ihr einen Zettel hinterlassen, wenn sie hätte schreiben können. Sie hätte geschrieben: »Bitte füttere die Hunde.«
     
    Tanja blieb mit ihrem Einkaufswagen in Gang drei stehen, Kaffee & Tee, scheinbar unentschlossen zwischen Tüten mit Sumatra- und Columbia-Kaffee, gemahlen oder in ganzen Bohnen. Sie war neun Jahre alt und hatte das glatte Haar und das breite Gesicht einer rumänischen Prinzessin. Sie legte den kolumbianischen Kaffee ins Regal zurück und nahm eine Packung Französische Röstung.
    Wie er so mit einer Zigarette hinter dem Ohr durch Gang fünf, Kekse & Kuchen, schlenderte, sah Leo nach Ärger aus, ob er wollte oder nicht. Immerhin trug er ein Einkaufsnetz, wie es alle für den Fall bei sich hatten, dass sie irgendetwas sahen, das zum Verkauf angeboten wurde. In diesen Zeiten. Leo hatte lange Beine, und er rannte gern. Er war zehn.
    Lisa war bei der Tiefkühlkost. Sie hatte fein geschwungene Lippen, blaue Augen, einen Heiligenschein aus goldenem Haar und buchstäblich keinen Gesichtsausdruck. Ihre beste Freundin Milka war in der Gemüseabteilung und prüfte die Melonen. Der Schnuppertest, der Klopftest, der Drucktest. Milka war so reizlos, wie Lisa schön war, aber sie trug eine Zahnspange, und das war ein Hinweis auf relativen Wohlstand. Beide Mädchen waren acht.
    Der Supermarkt gehörte zu einer französischen Kette, und man legte hier besondere Betonung auf Gerichte von gallischer Spontaneität wie Pate, Käse und Canard á l'Orange für die Mikrowelle. Flauschige und abgezogene Kaninchen hingen in der Fleischwarenabteilung, die so gestylt war, dass sie aussah wie eine echte boucherie. In einem Cafe bekam man Crepes und Croque-Monsieurs.
    Hinter einem Einwegspiegel über den Lammkoteletts saß der Abteilungsleiter und blätterte in einem Fotoalbum, bis er ein Gesicht fand, das Ähnlichkeit mit Lisas hatte. Uniformierte Wachmänner standen an den Eingängen und Notausgängen, in der Weinabteilung und an der Kaviartheke. Als der Chef vier Straßenkinder identifiziert hatte, ging er hinaus in die Abteilung.
    Keins der Kinder hatte bisher etwas Verbotenes getan, aber sie sollten wissen, dass er sie im Auge hatte, und deshalb schaute er in die falsche Richtung, als die automatische Tür aufglitt und ein schwarzer Schäferhund mit flatternder Leine durch Gang eins, Brot 6c Backwaren, hetzte, gefolgt von einem Mädchen in der Uniform einer

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