Die goldene Meile
unverständlichen Tönen.
Ins Kinderheim zu gehen, kam nicht in Frage. Nicht, weil die Leute, die es führten, mies waren. Die meisten waren nett. Aber sie würden die Familie nach Alter und Geschlecht aufteilen und auseinanderreißen, und Tito würde wahrscheinlich erschossen werden.
Hauptsächlich, um die Kinder zu beschäftigen, ging Itsy mit ihnen in die Spielhalle hinter dem Leningrader Bahnhof, und das schlafende Baby blieb bei Tito und den beiden ältesten Jungen, Leo und Peter. Sie war kaum zur Tür hinausgegangen, als die beiden den Hund festbanden und Aerosoldosen und Papiertüten hervorholten. Sie machten es sich bequem und atmeten die Dämpfe ein. Als Erstes spürte man einen scharfen Chemikaliengeschmack auf der Zunge, dann Euphorie und Wärme. Ein kopfnickendes Einverständnis mit der Welt. Das Gefühl, unter Wasser sanft zu schweben.
Ein Tadschike von der Reinigungskolonne kam auf seiner Kehrmaschine in den Schuppen gefahren. Der Strahl seiner Lampe huschte hin und her, während er Pappbecher und Getränkedosen aufsaugte. Die Jungen sahen jedoch einen mongolischen Reiter auf einer schwarzen Wolke, einen Krieger der Goldenen Horde mit Pfeilen aus Licht, die sie blendeten und ihnen die Sprache nahmen. Tito, der Hund, war dazu abgerichtet, nicht zu bellen. Er kam heran, so weit die Leine es erlaubte, die Ohren zurückgelegt und mit brennenden Augen, während der Krieger zu den Kisten schwebte, die die Familie zu Brennholz zerkleinerte. Der Stapel war halb aufgebraucht. Der Krieger öffnete eine Kiste und inspizierte einen prallen Plastikbeutel mit braunem afghanischem Heroin. Dann legte er ihn wieder zurück.
Er flog von einem Ende des Schuppens zum anderen, kehrte zurück und schwebte über dem Baby, das schlafend in seinem Korb lag.
Er klappte ein Teppichmesser auf und polierte die Klinge an seinem Ärmel. Schwebte an Ort und Stelle.
Klappte das Messer wieder zu und schob es dem Baby in die Arme.
FÜNFUNDZWANZIG
Während sie auf Viktor warteten, der nach oben gegangen war, um das Büro zu säubern, wollte Arkadi von Schenja und Maja wissen, warum sie ihn erst jetzt angerufen hätten.
»Sie wollte die Polizei nicht hineinziehen.«
»Vor drei Tagen hätten wir die Stadt auf den Kopf stellen können. Aber heute? Kein Mensch rührt mehr einen Finger.«
Schenja versuchte zu beschreiben, wie er sie das erste Mal gesehen hatte und wie sie der Miliz bei den Drei Bahnhöfen entkommen war. Je mehr er erzählte, desto mehr Fragen hatte der Ermittler.
Wer ist sie?
Wie alt ist sie?
Woher kommt sie?
Wie konnte sie ein Baby verlieren?
Hatte Schenja das Baby wirklich gesehen?
Hatte irgendjemand außer dem Mädchen das Baby je gesehen?
Sie hasste Schenjas Freund. Schenja mochte gelogen haben, aber nur er hatte den Mut gehabt, in das Gebäude zu gehen, um sie zu suchen und die Treppe hinunterzubringen, während die beiden Männer im Aufzug damit beschäftigt waren, Jegor in einen Leichensack zu stopfen.
Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff, dass der Ermittler sie direkt fragte: »Kanntest du den gelben Kombiwagen?«
»Nein.« »Woher?«
»Hab ich doch gesagt. Nirgendwoher.« »Kanntest du die beiden Männer?« Die Gärtner? »Nein.«
»Anscheinend kannten sie dich aber.« Er reichte ihr das Flugblatt, das die beiden Männer herumgezeigt hatten. Sie legte die Stirn an das kühle Seitenfenster, auf dem der Regen perlte. In verträumtem Ton antwortete sie, sie habe die beiden noch nie gesehen.
»Und den Pakistani?«
»Auch nicht.«
»Du hast nie was an seinem Kiosk gekauft?« »Nein.«
Schenja sagte, den Kioskverkäufer hätten sie nur noch mal gesehen, als die Männer ihn zu dem Jungen in den Volvo warfen und mit einer Plane bedeckten.
»Haben sie dich gesehen?«
»Vorher, auf der Straße. So habe ich Maja gefunden. Ich bin dem Wagen gefolgt.«
»Haben sie dich genau ansehen können?« »Ja.«
»Und wie sahen sie aus?« »Durchschnittlich. Total durchschnittlich.« »Sonst nichts?«
Schenja fiel nur ein Wort ein. »Bauern.«
Ein schlecht rasierter Leutnant namens Viktor setzte sich zu Leutnant Maja auf den Rücksitz des Lada und berichtete, das Büro sei mikroskopisch sauber. Und wer würde schon eine Vermisstenanzeige wegen eines Straßenbengels wie Jegor erstatten oder sich einen Scheißdreck um einen Pakistani kümmern? Ganz zu schweigen davon, dass das sexuelle Mündigkeitsalter bei sechzehn lag. Würde jemand, der für Sex mit Kindern bezahlte, zur Polizei gehen, wenn ihm
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