Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
im Süden des Landes. Möwen gibt es nur am Meer, sagte ich mir. Also schloss ich mich einer Gauklertruppe an, die auf dem Weg zur Nordseeküste war, in der Hoffnung, eine neue Vision könnte mir aufzeigen, wo du dich aufhältst.« Er seufzte. »Doch es gelang mir nicht. Keine Bilder, keine Verbindung zu dir.«
Cristin forschte in den Tiefen seiner Augen und schwieg, um ihn nicht zu unterbrechen.
»Der Gedanke lag nahe, dort als Erstes nach dir zu suchen, wo du als Kind gewesen bist. Bei deiner Ziehmutter Gesche Weber in Lübeck. Wobei ich mich all die Zeit über fragte, was du, eine Tochter aus offensichtlich gutem Haus, in einer Zelle verloren haben könntest …«
Cristin antwortete nicht. Die Bilder jenes Tages, als sie auf dem Markt gefangen genommen worden war, standen ihr allzu deutlich vor Augen.
Piet holte tief Luft und sprach weiter. »Das fahrende Volk hatte vor, eine Weile in Ritzebüttel an der Nordsee zu bleiben, ich dagegen wollte nach Lübeck. Allein durch das Land zu ziehen, schien mir jedoch zu gefährlich, deshalb blieb ich vorläufig bei ihnen. Eines Tages ergab sich dann die Möglichkeit, mit einem Spilman und ein paar Akrobaten weiter nach Lüneburg zu reisen. Ich hörte mich um, fragte nach Frauen, die in den Fronereien saßen, aber zu dem Zeitpunkt warteten nur wesentlich ältere Frauen auf ihren Prozess.« Er strich ihr über den Rücken. »Und wieder war ich Lübeck so fern. Es dauerte, bis ich die Gelegenheit bekam, in unsere Heimatstadt zu fahren.« Ein verlegenes Grinsen zeigte sich auf seiner Miene. »Ich wollte schon aufgeben. Es schien einfach keinen Sinn zu machen, weiter nach dir zu suchen, ohne neue Hinweise.«
In Cristins Kopf summte es wie in einem Bienenstock. Visionen, unsichtbare Verbindungen. Ein Zwillingsbruder, der sie suchte. Sie fuhr sich über das Gesicht.
»Meine Truppe hatte sich aufgelöst, und ich hielt Ausschau nach anderen Gauklern, denen ich mich anschließen konnte«, erzählte Piet weiter. Sein Blick war abwesend. »Dann traf ich einen Händler, der seine Waren über die Alte Salzstraße nach Lübeck bringen wollte. Er nahm mich auf seinem Karren mit und berichtete mir unterwegs von den Gauklern, zu denen wir jetzt gehören, auch sie wären auf dem Weg hierher. So kam ich endlich nach Lübeck zurück.«
Cristin fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Wie lange hast du mich gesucht, Piet?«
»Oh, mehr als vier Monate glaube ich.«
Sie verspürte einen Kloß im Hals. So lange hatte er nach ihr Ausschau gehalten, währenddessen sie nichts von seiner Existenz geahnt hatte? Selbst die Erlebnisse aus ihrer Kindheit hatte sie als Fantasterei angesehen. Wer glaubte schon an unsichtbare Freunde?
»Als ich dann endlich in Lübeck ankam, fragte ich nach deiner Ziehmutter.« Piet drehte spielerisch eine Strähne ihres Haares, die sich aus dem Kopftuch gelöst hatte, zwischen seinen Fingern. »Ich hatte Glück und fand jemanden, der sich an Gesche Weber und ihre Tochter erinnerte.«
Zwischen ihnen wurde es still. Beide waren gefangen in den Stürmen der Gefühle, die Piets Erzählung in ihnen ausgelöst hatte. »Dass wir uns letztlich auf dem Marktplatz getroffen haben, war ein Wink des Himmels, Cristin«, bekannte er. »Als ich dich sah, habe ich dich sofort erkannt, trotz deines Kopftuches und der Verkleidung.« Er lächelte schief. »Als ich dich ansprach, hast du die Nase gekräuselt, und deine Wangen verfärbten sich rot. Dies war der Moment, da ich wusste, wer vor mir stand. Dieselbe Mimik wie bei Mutter. Wie ähnlich du ihr in diesem Augenblick gesehen hast! Nun kennst du die ganze Geschichte, Schwesterchen. Willst du mir nicht auch deine anvertrauen? So vieles liegt für mich noch im Dunkeln.« Aufmerksam studierte er ihren Gesichtsausdruck und wartete.
Cristin sah an ihm vorbei und löste sich aus seiner Umarmung. Nur zu gern wäre sie ihm ausgewichen, hätte ihn auf einen anderen Zeitpunkt vertröstet, doch war das gerecht? Hatte Piet nicht ein Recht darauf, auch ihre jämmerliche Geschichte zu erfahren, selbst wenn es sie unangenehm berührte? Nachdem sie sich gesammelt hatte, begann sie mit heiserer Stimme zu sprechen. Angefangen bei den Erinnerungen aus der Kindheit bis hin zu ihrer Hochzeit mit Lukas. Von seinem Tod und allem, was daraufhin ihren Weg bis hierher nach Lübeck zu diesem Abend, bestimmt hatte. Bis hin zu der Tatsache, dass sie als Mörderin ihres Gatten gesucht wurde und sich deshalb als Zigeunerin
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