Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
verkleidete.
»Himmel«, murmelte er, als sie geendet hatte und wischte sich über die Augen. »Jetzt bin ich ja bei dir. Wenn es Gerechtigkeit geben sollte, werden wir die Wahrheit herausfinden, Cristin. Obwohl, ich sollte dich lieber Agnes nennen, oder?« Piet setzte eine seiner komischen Grimassen auf.
Sie nickte und versuchte ein Lächeln. »Ja, Victorius, das wäre gewiss klüger.«
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M orgen ziehen wir weiter«, verkündete Michel beim gemeinsamen Frühstück. »Nach Sleswig, zu einer großen Hochzeit. Alle Gaukler der Umgebung sollen kommen und ihre Künste zeigen.«
Baldo warf Cristin, die ihm gegenübersaß, einen forschenden Blick zu. Sie schien keinen Appetit zu haben, Brot und Gerstenbrei lagen unberührt an ihrem Platz, und die dunklen Ringe unter ihren Augen zeugten von Schlafmangel. Er ahnte, was in ihr vorging, aber Cristin wusste nichts von seiner Liebe zu ihr und dem Bedürfnis, sie glücklich zu machen. In ihrem Herzen würde niemals Platz sein für den Sohn des Henkers. Welches Leben könnte ich ihr schon bieten?, dachte er. Ein Leben auf der Flucht vor Gesetz und Ordnung. Nein, das hat sie nicht verdient. Auch ihm war der Hunger vergangen. Er nahm einen Schluck Bier aus seinem Becher, um das Brennen seiner Kehle zu löschen. Während die Gaukler lautstark miteinander schwatzten, beobachtete er Cristin und ihren Bruder, die sich angeregt zu unterhalten schienen. Wie schön für sie. Er wandte den Kopf und dachte an ihren Streit vor einigen Tagen zurück. Die Spannung zwischen Cristin und ihm schien nachgelassen zu haben. Stillschweigend waren sie übereingekommen, zu niemandem ein Wort über den Narren, den sie nur als Victorius kannten, verlauten zu lassen.
Als Duretta und Michel sich erhoben, stand auch Baldo auf und nahm Becher, Teller und Löffel an sich. Er wusch sie aus und steckte alles wieder in seinen Beutel.
Urban, der in der Stadt Futter für seinen Bären besorgen wollte, kam mit hochrotem Kopf angelaufen. »Ihr werdet es nicht glauben«, rief er atemlos und hielt sich die Seiten. »Da drüben haben sie eine Leiche aus der Wakenitz gezogen.«
Irmela und Duretta stießen einen Schrei aus.
Urban schüttelte sich. »Der Kerl war aufgebläht wie eine Schweinsblase, sag ich euch.«
»Wie furchtbar«, flüsterte Cristin. Sie musterte den Bärenführer, dessen Gesichtsfarbe ungefärbtem Leinen glich. »Du hast alles mit angesehen?«
»Ließ sich nicht vermeiden«, brummte Urban. »Ich war auf dem Heimweg. Auf einmal schrien ein paar Frauen um Hilfe, die dort ihre Wäsche auswuschen, und innerhalb kürzester Zeit war da eine Traube von Leuten.« Er wischte sich über das Gesicht.
Baldo drückte ihn auf einen Schemel, holte seinen Becher aus dem Wams und füllte ihn nach, um ihn wortlos an den Gaukler weiterzureichen.
Urban nahm einen tiefen Schluck. »Alles schrie durcheinander. Ich wollte nur vorbei, dann sah ich ihn.«
So aufgewühlt hatte Cristin den Bärenführer noch nie erlebt.
Duretta strich ihm über den Arm. »Sicher einer dieser Bettler, die von niemandem vermisst werden, oder?« Sie schnalzte mit der Zunge. »Hat wahrscheinlich zu viel Wein getrunken und ist ins Wasser gefallen.«
Urban schüttelte den Kopf. »Muss ein angesehener Mann gewesen sein, der Kleidung nach zu urteilen. Ein Bader, der vorbeikam, meinte, es sieht nach Selbstmord aus.«
»Selbstmord?« Cristin weitete die Augen. Warum sollte ein angesehener Mann sich das Leben nehmen, wenn er weder Hunger noch Armut kannte?
»Er soll der Medicus der Stadt gewesen sein«, murmelte der Gaukler. »Wurde wohl schon seit Tagen vermisst.«
»Ein Medicus?«
Urban kratzte sich am Nacken. »Ich glaube, jemand sagte, sein Name sei Küppers. Wieso? Kanntest du ihn, Agnes?«
»Ich? Nein, natürlich nicht«, beeilte sie sich zu versichern und ließ sich schwer auf einem Schemel nieder. Küppers, Konrad Küppers. Bittere Galle stieg in ihr hoch. Wie könnte sie jemals seine herablassenden Blicke vergessen und die Genugtuung in seiner Miene, als ihr Todesurteil gefallen war. Dieser Mann war tot. Sollte er sich tatsächlich das Leben genommen haben? Sie faltete ihre Hände im Schoß, damit die anderen nicht bemerkten, wie sie zitterten. Es sei denn …
»Ist dir nicht gut, Agnes?« Duretta legte den Arm um sie.
»Mir ist nur etwas schwindelig.« Cristin erhob sich schwerfällig und spürte, wie sie rot wurde.
Duretta, Irmela und die anderen Gaukler hatten Baldo und sie freundlich in ihrem Kreis aufgenommen, und
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