Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
anderer Kinder ertragen, weil du nicht zu den angesehenen Bürgern Lübecks zähltest?«
Cristin presste die Lippen aufeinander.
»Sag mir, was hast du ausstehen müssen bei deinen Zieheltern? Hattest du es nicht gut bei ihnen, dass du glaubst, dir wäre etwas genommen worden?«
Am ganzen Leib bebend richtete sie sich auf und hoffte, er möge in der zunehmenden Dunkelheit nicht sehen, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Oh ja, mir ist etwas genommen worden, Piet: die Wahrheit! Ich habe mir immer Geschwister gewünscht! Einen Spielkameraden, jemanden, mit dem ich mich verstehe und der zu mir gehört.«
So jemanden wie meinen unsichtbaren Freund, der immer da war, wenn ich mich allein fühlte, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie betrachtete den Nachtwächter mit seiner Laterne, wie er die Marienkirche umrundete, und wartete, bis sie ihre Stimme wieder unter Kontrolle und die letzten Tränen hinuntergeschluckt hatte. Cristin setzte sich nieder und grub die Hände in ihren Umhang.
Zwischen ihnen wurde es still.
»Erzähl weiter«, bat sie nach einer Weile.
Piet lehnte sich zurück und fuhr sich über die weißen Haare. »Na schön. Weißt du, wie es für mich war?« Er sah sie an. »Ich war etwa vier oder fünf Lenze alt, da habe ich es das erste Mal gespürt. Es war so, als ob mir immer etwas fehlte. So wie …« Er suchte nach Worten. »So als ob ein Teil von mir nicht da wäre. Wie bei einer Puppe, der ein Bein fehlt.«
Cristin schluckte.
»Dann fingen irgendwann diese … diese Träume an. Da war ein Mädchen, genauso alt wie ich, wir spielten miteinander. Manchmal kam es mir vor, als läge sie nachts neben mir und wärmte mich, wenn ich fror. Ich hörte sie lachen und weinen, ganz in meiner Nähe. Wenn ich erwachte, wurde ich traurig. Mutter meinte, das wäre nur ein Wunschtraum, aber ich konnte sehen, dass sie nicht gern darüber sprach.« Sein Blick war auf den Boden gerichtet, und Cristin konnte seine innerliche Erregung förmlich spüren. »Eines Tages«, fuhr Piet fort, »stellte ich mir das Mädchen vor, wie es neben mir saß, wenn ich spielte. Es hatte rötliche Locken und meist aufgeschürfte Knie, weil es wild und unachtsam war.«
Cristin stockte der Atem.
»Manchmal sah ich sie so klar vor mir, als wäre sie wirklich da. Sie gluckste, wenn sie lachte, alles an ihr war mir so vertraut. Ich wusste, wie sie roch und dass sie errötete, wenn sie erregt oder verlegen war.«
Alles in ihr erstarrte. Cristin war es, als sähe sie sich selbst auf dem Boden hocken, neben einem Jungen mit strohblonden Haaren, der ihr Geschichten erzählte. Sie starrte auf das Profil des Spaßmachers, lauschte seiner Stimme und stammelte: »Ich habe am liebsten … ja, am liebsten habe ich mit den Rittern aus Holz gespielt.«
»Ja«, hörte sie ihn flüstern. »Mit den Rittern. Ich musste mir Geschichten von stolzen Burgfräulein ausdenken, die im Verlies gefangen gehalten wurden. Jedes Mal, wenn es kein schönes Ende gab, warst du traurig.«
Ihre Blicke begegneten sich. Cristin überlief ein Schauer. In ihrem Kopf war ein Summen, der Puls an ihrem Hals raste. »Das … das kann nicht … Piet!« In diesem Moment nahm sie jedes Detail überdeutlich wahr. Seine weißen Haare, mit denen der Wind spielte, ebenso wie die dunklen Wolken, die den Mond verdeckten, und dieses unerklärliche Empfinden, etwas Langersehntes möglicherweise wiedergefunden zu haben. Unzählige Fragen brannten ihr auf der Seele, doch sie war nicht fähig, mehr als einen heiseren Ton herauszubringen.
»Dann, mit zehn Lenzen, alt genug, die Wahrheit zu ertragen, erzählte Mama mir alles.« Piet hob ihr Kinn, damit sie ihn ansah, und sein Blick wurde eindringlich. »Sie hatte Angst, ihr kleines Mädchen könnte krank werden und sterben. Du solltest leben, Cristin. Sie hat sich lange in den Schlaf geweint, es hat ihr beinahe das Herz zerrissen, als sie dich weggab. Ihr einziger Trost war die Gewissheit, dass gut für dich gesorgt wurde.«
Wortlos legte Cristin den Kopf gegen seine Schulter und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Trotz ihrer Verwirrung fühlte sich seine Nähe vertraut an, wie selbstverständlich. »Sie tat es aus Liebe, Schwester. Bis zu ihrem Tode hat sie deiner immer wieder gedacht.«
Der Regen nahm zu und drang durch ihre Kleidung. Mit einer Hand wischte sie sich einige Tropfen von der Stirn und schwieg. Alles klang so unfassbar, unmöglich gar, und dennoch fügte sich in ihr alles zu einem Ganzen zusammen. Piets und ihre
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