Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
wärmen.« Piets Augen leuchteten, während er erzählte. »Glaubst du an Bestimmung, Cristin?«
»Ja, das tue ich.«
Er nickte und wich einer Pfütze aus. »Von dem Tag an wusste ich, ich wollte Gaukler werden. Einer, an den die Leute sich erinnern sollten, weil er sie zum Lachen gebracht hatte.« Er lachte leise. »Dass ich Mutter mit meiner Singerei und dem Jonglieren nicht in den Wahnsinn getrieben habe, grenzt an ein Wunder.«
Cristin lächelte. Selbst ungeschminkt wirkte Piet mehr als ungewöhnlich. Ihn als ihren leiblichen Bruder anzusehen, der sich in vielen Dingen so sehr von ihr unterschied, fiel ihr nicht leicht. Doch trotz aller Gegensätze spürte sie eine Verbindung zwischen ihnen beiden, die mehr war als nur die Sprache des Blutes. »Wie lange reist du schon als Narr durch die Lande?«
Sein Gesicht verdüsterte sich. »Seit Mutters Tod. Ich war vierzehn, als sie starb. Mit einem Teil des hinterlassenen Geldes sorgte ich dafür, dass sie ein anständiges Begräbnis bekam, dann zog ich los. Nichts hielt mich mehr in dieser Stadt.«
Sie waren beinahe an der Stadtmauer angekommen, wo sie nächtigten. Aus einem der Fenster drang das Gezeter zweier Weiber zu ihnen herüber, hinter einem der Backsteinhäuser kläffte ein Hund. Es roch moderig, und der allgegenwärtige Geruch menschlicher Exkremente hing in der Luft.
Cristin fror. Eines jedoch musste sie noch wissen. »Wie hast du mich gefunden?«
Piet schwieg einen Augenblick. »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Immer wieder spürte ich eine unsichtbare Verbindung zwischen uns, etwas, das unsere Seelen miteinander verband. Im Traum sah ich, wenn du Angst hattest oder krank warst. Ab und zu erkannte ich auch deine Ziehmutter, diese Gesche Weber. In den letzten Monaten wurde es stärker. Manchmal war es, als ob du mich rufen würdest, Schwester.« Er blieb stehen. »Es kam mir oft so vor, als seiest du in meiner Nähe, nur wusste ich nicht genau, wo du warst. Während ich vor ein paar Monaten mit verschiedenen Gauklergruppen umherreiste, wurde ich unruhiger. Ich erinnere mich, dass …« Piet stockte. Er fuhr sich über die Stirn. »… dass ich weiter im Süden war, wo es dichte, dunkle Wälder gibt. Ich bereitete mich mit einem Sänger auf eine Vorstellung vor. Plötzlich fing mein Herz an zu rasen. Da hörte ich Männerstimmen. ›Du wirst verhaftet‹, sagten sie. Hände griffen nach mir und zerrten mich fort.«
Cristin unterdrückte ein Stöhnen.
»Ich … ich brauchte eine Weile, bis ich verstand, dass es nicht nur ein Traum, sondern eine meiner verrückten Visionen war, wie Mutter sie immer nannte. In meinem Inneren spürte ich, es musste mit dir zu tun haben.«
Schwer stützte Cristin sich an der Mauer eines windschiefen Hauses ab. »Was … was hast du noch gesehen?«
»Bilder, immer nur kurze Momente.« Piet legte den Arm um sie. »Dunkelheit. Ich sah dich auf dem Boden kauern, fühlte Schmerz. Dann eine höhnische Stimme und Fesseln, die dir die Handgelenke einschnürten. Ich erlebte deinen Zorn, vor allem aber deine Angst.« Am Ende flüsterte er nur noch, für sie jedoch klangen seine Worte wie ein aufkommender Sturm.
»Hör auf! Bitte.«
»Cristin.«
Die Arme schützend über den Kopf gelegt, wehrte sie ihn ab. »Lass mich. Ich … ich will es nicht hören.« Ihre Stimme überschlug sich, versagte ihr den Dienst.
»Ich verstehe dich ja. Aber es ist wichtig, darüber zu reden.« Piet wiegte sie in seinen Armen wie einen Säugling. Sie barg ihren Kopf in seiner Halsbeuge und ließ es zu.
»Ich wusste weder, wie du heißt, noch wo du lebst«, fuhr er leise fort. »Hab dich ja immer nur in bruchstückhaften Bildern gesehen.« Piet blickte ihr in die Augen. »Dennoch – überall auf der Welt hätte ich dich erkannt, glaube mir.«
»Und wie, wie hast du mich …?«
»Gefunden?« Piets Augen glänzten. »Das war nicht einfach, Schwesterchen, denn als Narr war ich ständig unterwegs und stets Gast in vielen fremden Ländern.« Seine Miene nahm einen verschmitzten Ausdruck an. »Bis ich dich eines Tages in einer Vision sah, wie du aus einem vergitterten Fenster hinausgeschaut hast.«
»Ja«, raunte Cristin. »Aber woher solltest du wissen, wo das war?«
»Ich wusste es ja nicht, spürte allerdings deine Verzweiflung und wurde immer unruhiger. Dann erinnerte ich mich plötzlich. Da waren Möwen in der Vision. Ich … ich hörte ihr Geschrei.«
Sie stockte, starrte ihm in das aufgewühlte Gesicht.
»Damals war ich weit fort,
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