Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
erklärte Cristin. Sie warf einen Blick in den nahezu wolkenlosen Himmel und ignorierte die zischenden Atemzüge ihrer Begleiter. »Hört mir zu. Ich habe keine andere Wahl. Versteht ihr denn nicht?«
In ihrem Inneren braute sich ein Sturm zusammen. Sie schlang die Arme um ihren Leib und lehnte sich gegen eine Mauer. »Wir haben erfahren, dass Lüttke und Lynhard einander offenbar gut kennen. Lüttke und Klingbeil sind ein und dieselbe Person, und mein lieber Schwager hat zumindest nicht eingegriffen, als die Kerle zu dem Mädchen auf die Kammer gingen. Ob aus Unwissen oder Gleichgültigkeit, wissen wir nicht. Was liegt also näher, als Lüttkes und vielleicht auch Lynhards Spur nach Polen zu folgen?« Cristin seufzte.
Die Protestlaute der Männer waren verstummt. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus.
Piet räusperte sich vernehmlich. »Was erhoffst du dir in der Fremde zu finden, Schwesterchen?«
»Hinweise, irgendwelche Hinweise, ob Lüttke möglicherweise auch an Lukas’ Tod beteiligt war«, entgegnete sie ernst.
»Moment«, Baldo umfasste ihre Oberarme und musterte sie eindringlich. »Was soll das eine mit dem anderen zu schaffen haben? Auch wenn der Kerl ein Schwein ist, das macht ihn nicht zwangsläufig gleich zum Mörder!«
»Genau«, stimmte Piet zu. »Außerdem begründet sich unser Verdacht nur auf die Beschreibungen einiger Mädchen, und das ist nicht besonders viel, meinst du nicht auch?«
»Himmel, denkt doch mal nach!«, stieß Cristin ungeduldig hervor, senkte aber sogleich wieder ihre Stimme, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. »Lukas hatte oft am Hafen zu tun, denn er hat sich dort mit Händlern aus aller Welt getroffen, um Geschäfte zu machen. Er könnte Lüttke beobachtet haben, wie er Mädchen aus dem Osten in Empfang genommen hat. Dann hätte der Salzhändler ein Motiv, um Lukas zu töten, oder?«
»Oder du hast eine blühende Fantasie«, war Baldos trockener Kommentar.
»Ja, ich weiß«, erwiderte sie leise und löste sich aus seiner Umklammerung. »Aber diese Überlegungen sind alles, was wir haben. Wenn wir Näheres über Lüttke herausfinden möchten, müssen wir zum Ort des Geschehens. Mit etwas Glück entdecken wir irgendetwas, das uns bei der Aufklärung von Lukas’ Tod weiterhilft.« Ihr war es, als läge eine unerträgliche Last auf ihren Schultern, die sie von Tag zu Tag mehr niederzudrücken schien. »Ich will, dass der Mörder gefasst wird, und ich will Elisabeth zurück. Dafür zahle ich jeden Preis, glaubt mir. Wenn das heißt, dass ich nach Polen reisen muss, um auch nur den Hauch einer neuen Spur zu finden, so will ich das tun.«
Baldos Stimme wurde warm. »Ja, ich verstehe dich. Glaubst du wirklich, Lynhard könnte …«
»… etwas damit zu tun haben?«, vervollständigte sie seinen Satz. »Nein, natürlich nicht! Wie könnte ich? Andererseits …« Cristin brach ab und atmete tief ein, bis sich ihr beschleunigter Herzschlag allmählich wieder beruhigte. »Andererseits hätte ich mir auch nie vorstellen können, dass er in schmierigen Spelunken sein Geld verprasst oder zusieht, wie halbe Kinder Männerbesuch empfangen.«
»Das ist wahr«, antwortete Baldo nach kurzem Zögern.
»Wohin genau geht unsere Reise nun?«, hakte Piet nach und strich ihr zart über die Wange.
»An die polnische Ostseeküste. Du weißt doch, was Kairas mir erzählt hat. Von dieser Stadt – ich glaube, sie heißt Slupsk – werden die Frauen und Mädchen übers Meer hierhergebracht. Ich habe so eine Ahnung, als ob wir dort die Antworten auf einige unserer Fragen finden werden.«
24
N achdem Cristin und Baldo ihre wenigen Habseligkeiten aus dem Armenhaus geholt hatten, passierten sie im Morgengrauen das Burgtor. Wieder einmal ließ Cristin die Mauern Lübecks hinter sich. Sie erschauerte immer noch, wenn sie an den Sohn der Wirtin dachte. Wären Baldo und Piet nicht in die Schänke gekommen und hätten sie befreit, wer wusste, wie lange sie sich seiner Anzüglichkeiten hätte erwehren können.
Bedauerlich war nur, Sarah und Kairas in der Schänke zurücklassen zu müssen. Sie mochte sich gar nicht ausmalen, was nun mit den beiden jungen Mädchen geschehen würde, die ihr in den letzten Tagen ans Herz gewachsen waren. Während sie an den Fischerkaten des Dorfes Schlutup vorübereilten, dachte Cristin an die armen Frauen und Hübschlerinnen im Lübecker Armenhaus. Frauen und Mädchen wie Lena und Judith, mit denen sie sich besser verstanden hatte als mit manch vornehmer
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