Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
Tages wieder bei sich zu haben, der einzige Grund war, den Kampf nicht aufzugeben? Einen Moment lang war sie versucht, zur Trave hinunterzulaufen und ins Wasser zu gehen, um allem Leiden ein Ende zu setzen. Aber das war eine unverzeihliche Todsünde, für die sie gewiss im ewigen Höllenfeuer büßen musste. Außerdem – was würde aus Elisabeth werden, wenn sie ohne Vater und Mutter aufwachsen müsste? Der Gedanke und die Vorstellung, wie ihr toter, kalter Leib irgendwann aus dem Wasser gezogen, an einem Strick durch die Straßen Lübecks geschleift und am Galgen aufgehängt werden würde, ließen sie schaudern.
Ein Geräusch unterbrach ihre trüben Gedanken. Der Sohn der Wirtin stand mit dem Rücken zu ihr an der Tür, und als er sich umdrehte, sah sie, dass er den schweren Riegel davorgeschoben hatte. Sie versteifte sich.
Er öffnete den Mund und grinste. Die feinen Härchen an ihren Unterarmen stellten sich auf, als er auf sie zukam, sie an sich zog und gegen eins der Bierfässer stieß, um ihre Brüste zu betatschen. Cristin gelang es, sich von ihm zu befreien und in die Kammer ins obere Stockwerk zu laufen. Sein heiseres Lachen jedoch folgte ihr.
23
P iet zog sich den löchrigen Mantel um die Schultern. Er hatte ihn am Morgen einem toten Bettler abgenommen, über den er beinahe gestolpert wäre. In den schmalen Gassen und Gängen, in denen er sich seit vier Tagen herumtrieb, war es zugig und kalt, denn die ersten Herbststürme wehten vom Meer her über die Stadt hinweg. Er hob den Kopf und betrachtete eine Schar Möwen, die am wolkenverhangenen Abendhimmel kreisten und deren schrilles Geschrei Regen ankündigte. Seine Gedanken wanderten zu Cristin. Wie mochte es ihr gehen? Von Baldo wusste er, dass seine Schwester sich seit ein paar Tagen als Schankmädchen in einem Wirtshaus am Hafen verdingte. Wenn er ehrlich war, gefiel ihm das nicht. Eine Frau wie Cristin, die dazu noch hübsch anzusehen war, gehörte in keine Schänke. Er war in genügend Spelunken gewesen, um zu wissen, wie es dort zuging. Die Mädchen und Frauen, die dort bedienten, mussten sich oft mehr als nur geile Blicke und anzügliche Bemerkungen gefallen lassen.
»Vielleicht sollte ich die Schänke aufsuchen und nach Cristin sehen«, überlegte er halblaut. Was natürlich nur das Hirngespinst eines verrückten Narren sein kann, rief Piet sich selbst zur Ordnung, denn es stand ihm nicht zu, seine Schwester so spät am Abend zu stören. Bei diesem Gedanken fühlte er Unruhe in sich aufsteigen. Ein in einen knöchellangen Mantel gehüllter Nachtwächter, in einer Hand die Hellebarde, in der anderen eine Laterne, kam ihm entgegen, musterte ihn kurz und setzte seinen Kontrollgang durch die schmale Gasse zwischen den Holzbuden fort. Piet blieb stehen und rieb sich über das Gesicht. Allerdings – Hafenkneipen gab es wie Sand am Meer, sinnierte er. Vielleicht sollte er zu dem Armenhaus in St. Johanni gehen und Baldo fragen, ob er ihn zu der Schänke begleitete. Der Freund würde sicher den Kopf über ihn schütteln. Dabei wollte er sich nur vergewissern, dass es Cristin gutging, oder? Piet hob die Hand, fuhr sich durch das Haar. Schon fielen die ersten Regentropfen, rannen an seiner Stirn hinunter und tropften von seiner Nase, doch er beachtete sie nicht weiter. Er verließ die Gropengrove, wich Passanten und einem streunenden Hund aus.
Nicht einmal eine halbe Stunde später waren die beiden Männer auf dem Weg zur Obertrave, auf deren gegenüberliegender Seite sich die Kogge befand. Mittlerweile goss es in Strömen, und als die beiden endlich vor der Tür der Schänke standen, waren sie längst bis auf die Haut durchnässt.
Innen war alles dunkel und still. Die Wirtin, ihr Sohn sowie die anderen Bewohner schienen bereits zu schlafen. Trotzdem schlichen die beiden um das Haus herum, wobei sie sich immer wieder vergewisserten, dass sie nicht beobachtet wurden. Plötzlich fiel Baldo ein, dass Cristin in einer Kammer im oberen Stock schlief, gemeinsam mit zwei anderen Frauen.
Im Dunkeln wandte er sich zu Piet um. »Den Weg hätten wir uns sparen können.«
Piet hob die Schultern. »Ich weiß nicht. Mir wäre lieber, wir schauen genauer nach. Irgendwie hab ich ein komisches Gefühl. Du weißt ja, Cristin und ich …«
Baldo schnaubte.
»Also gut, wenn es dich beruhigt, lass uns nachsehen, in welcher Kammer sie ist. Vielleicht steht hier irgendwo eine Leiter oder etwas anderes herum, damit wir in die oberen Fenster spähen können.« Mit
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