Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
Kaufmannsfrau aus ihrer Zeit mit Lukas.
Die Nacht verbrachten sie in Wismar, einer der Städte an der Hansischen Ostseestraße. Mit dem Geld, das Baldo erbettelt und Piet durch seine Späße verdient hatten, konnten sie sich zwei einfache Kammern mieten. Am nächsten Tag reisten sie weiter nach Rostock, das wie Lübeck, Wismar und Hamburg zum Wendischen Städtebund gehörte. Piet kannte die Stadt an der Warnow bereits von früheren Reisen. Auf dem Neuen Markt, gegenüber der dreischiffigen, aus rotem Backstein gebauten Marienkirche, die ihrer Namensvetterin in Lübeck nachempfunden war, traten sie auf. Die Leute erinnerten sich an den hell geschminkten, weißhaarigen Kerl im bunten Narrenkostüm und belohnten ihn für seine Späße und Spottgesänge. Baldo begleitete ihn auf der Trommel, und Cristin spielte wieder einmal die Zigeunerin, die den Bürgern die Zukunft vorhersagte.
Für die Nacht hatten sie sich in einem Gasthaus am Hafen eingemietet. Cristin öffnete das kleine Fenster und blickte hinaus auf den breiten Fluss. Im schwachen Mondlicht erkannte sie unzählige Fischerboote, die sacht im kühlen Abendwind schaukelten. Gegenüber lagen, vertäut an hölzernen Piers, die weit in den Fluss hineinragten, drei bauchige Hansekoggen. Tief sog sie die frische Seeluft ein. Nicht weit von Rostock mündete die Warnow in die Ostsee, hatte ihr Piet erzählt.
Sie schloss die Augen und sann über die eigenartige Verbindung zu ihrem Bruder nach.
Wie konnten Zwillinge derart miteinander verbunden sein, ohne sich jemals gesehen zu haben? All die Jahre über hatte ihr Bruder immer wieder gespürt, wo sie sich aufhielt und was sie erlebte. Das war ein Mysterium, das sie ebenso fürchtete, wie es sie neugierig machte. Dennoch war es die Wahrheit. Piet berichtete, ihrer beider Mutter hätte einen Kunden manchmal nur anzusehen brauchen, um zu wissen, wie es um diesen Menschen bestellt war. Sie hatte Einsamkeit, Gier und andere niedere Gedanken ebenso wie ihre dunkelsten Geheimnisse und innigsten Wünsche erkannt. So wie Piet sagte, war es immer völlig unvermittelt über sie gekommen.
Ein Teil dieser Gabe scheint sie an uns weitergegeben zu haben, dachte Cristin.
»Traue deiner inneren Stimme«, hatte die Mutter Piet geraten. »Richte dich nach ihr. Nichts von dem, was du siehst oder träumst, ist nur bedeutungslose Illusion, immer steckt etwas Wahres dahinter, wie bei einem Vorhang. Mal ist die Sicht versperrt, und du musst ihn lüften, mal kannst du durch ihn hindurchsehen. Die Wahrheit jedoch bleibt dieselbe.«
Cristin kannte das Gefühl, manchmal in das Innere eines Menschen hineinsehen zu können. Deshalb hatten sich diese einfachen Worte auch tief in ihre Seele eingegraben. Doch nun war jemand an ihrer Seite, dem es ebenso erging und der sie verstand. Piet ging so selbstverständlich mit seiner Gabe um, als wäre sie nichts, für das man sich schämen oder das man gar fürchten musste.
Die Reise schien sich endlos hinzuziehen. Heftige Regengüsse hatten die Straßen und Wege aufgeweicht und machten sie teils unpassierbar. Immer wieder mussten die drei Unterschlupf vor zornigen Stürmen suchen, die dicke Äste abbrachen, Büsche entwurzelten, durch die Luft wirbeln ließen und so die Wege versperrten. Die Nächte waren für Cristin das Schlimmste, wenn es im Unterholz knackte und allerlei Geräusche ihr Schauer über den Körper jagten. Endlich – inzwischen hatten sie die Tore Stralsunds erreicht – klarte das Wetter auf, und der Himmel zeigte sich in einem intensiven Blau. Regentropfen schimmerten auf Blättern und Blüten, und Sonnenstrahlen wärmten ihr Gesicht und Gemüt.
Piet war auch schon einmal in Stralsund aufgetreten und wusste zu berichten, dass die Stadt an der Ostseeküste nach Lübeck die bedeutendste Hansestadt im Norden war. Von hier aus waren es noch etwa fünf oder sechs Tagesreisen, bis sie ihr Ziel erreicht hätten, die polnische Küste und die Stadt Slupsk, von wo aus angeblich immer wieder Mädchen und Frauen nach Deutschland gebracht wurden.
Teil 3
1
S chweigend waren die drei eine Weile, ein jeder in seine eigenen Gedanken vertieft, über den feuchten, angenehm kühlen Strandsand gelaufen. Baldo empfand den Spaziergang am Meer nach der langen und beschwerlichen Reise als Erholung. Sie waren endlich im polnischen Lebamünde, einer kleinen Hafenstadt, angekommen. Staunend betrachtete er die Sanddünen, die höher als zwei Männer groß waren und vor ihnen aufragten, als hätte
Weitere Kostenlose Bücher