Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
über die Schulter zu, und meinte dann an Baldo gewandt: »Du sagtest, der Mann wäre in Begleitung gewesen. Wie sah der andere denn aus?«
Baldo dachte nach. »Groß war er, vornehm und ziemlich eingebildet. Wenn ich es recht bedenke, war er dem reichen Kerl mit dem Mädchen an der Seite aus der Schänke von gestern Abend ziemlich ähnlich.«
Cristin erstarrte. Lynhard. Ihre Kehle wurde trocken. »Was hatten Lüttke und mein Schwager dort zu suchen?«, überlegte sie laut. Die beiden waren seit Jahren befreundet, das wusste sie, und kannten Küppers natürlich von gemeinsamen Festen. Aber auch gut genug, um seiner Beerdigung beizuwohnen?
Baldo schaute sie verdutzt an. »Wie? Der eingebildete Kerl ist dein Schwager?«
»Ja, gut möglich. Zumindest passt deine Beschreibung auf ihn. Allerdings verstehe ich das nicht. Was hatten die beiden dort verloren?«
»Was auch immer. Sie haben den Friedhof gemeinsam verlassen, wenn ich mich nicht irre.« Er leerte seinen Becher, zwinkerte ihr zu und erhob sich. »Ich geh dann mal besser.«
Cristin nickte abwesend, während ihre Gedanken um Lynhard kreisten. Der Mann, der sich besorgt über sie gebeugt hatte, als sie schwanger gewesen war. Der Mann, der den Medicus verständigt hatte, als sie am Kindbettfieber erkrankt war. Der Schwager, der bei ihrer Hinrichtung zugegen gewesen war. Für ihn war sie schuldig gewesen, hätte er sonst bei der Urteilsvollstreckung dabei sein wollen? Aber war das nicht sogar verständlich, schließlich war sie diejenige gewesen, die an Lukas’ Bett gewacht hatte und so die Gelegenheit zu einem Gattenmord gehabt hätte? Sie selbst hatte den Medicus weggeschickt, einen Aderlass abgelehnt und sich so mit ihrem Verhalten verdächtig gemacht. Trotzdem hatte seine offensichtliche Anklage sie entsetzt.
Über diese Empfindung schob sich plötzlich ein weiterer Gedanke. Warum gab sich der stolze, gut aussehende und charmante Mann mit Kerlen wie Hilmar Lüttke ab, war sogar mit ihm befreundet? Als Pelzhändler, noch dazu mit einer wohlhabenden Ehefrau, standen ihm sämtliche Türen Lübecks offen. Oder war er so verschuldet, dass er sich Geld bei diesem feinen Lüttke geliehen hatte, nun in seiner Schuld stand und den Freund deshalb deckte? Cristin konnte es nicht glauben. Ihr Schwager war eitel, jagte hübschen Röcken nach, frönte der Spielerei und ging leichtsinnig mit Geld um, ja. Aber ein Verbrecher konnte er nicht sein. Sie waren doch einmal eine Familie gewesen. Gewiss war Elisabeth bei ihm und Mechthild. Die Kleine musste in Sicherheit sein!
Am nächsten Tag war die Wirtin krank. Die Alte klagte über heftige Schmerzen in den Gedärmen. Am Nachmittag verschwand sie in ihrer Kammer und übertrug dem Sohn die Aufsicht über die Schankstube. Kurz überlegte Cristin, ob sie der Wirtin anbieten sollte, ihr einen lindernden Leibwickel aus Fenchelsamen und Kamillenblüten zu machen, wie sie es bei Ludewig Stienberg gelernt hatte, aber dann verwarf sie den Gedanken wieder.
In der Schankstube war an diesem Abend nur wenig Betrieb, lediglich eine Handvoll Würfelspieler hockte bei Würzbier an den Tischen.
»Kein gutes Geschäft heute«, brummte der Sohn der Wirtin, während er Cristin aus glasigen Augen anstarrte. »Wenn nicht bald noch ein paar Leute kommen, sperr ich die Tür zu und leg mich hin. Kannst ja mitkommen in meine Kammer.«
Er streckte eine Hand nach ihr aus, doch geschickt wich sie ihm aus und trat an einen Tisch, um die leeren Krüge abzuräumen. Während Cristin an eines der Bierfässer trat und drei Krüge für die Zecher füllte, dachte sie an Piet. Wie mochte es ihm ergehen? Sie stellte die Krüge ab und ließ sich neben den Fässern auf einem Schemel nieder. Was war nur aus ihnen geworden? Herumtreiber und Bettler, der Abschaum der Gesellschaft. Als wäre das nicht genug, lebten sie in ständiger Angst, von einem ihrer Häscher erkannt zu werden. Mehr als einmal waren Cristin Leute begegnet, die sie von früher kannte. Mit gesenktem Kopf hatte sie sich an ihnen vorbeigeschlichen. Betend, der Tage möge kommen, an dem sie sich wieder frei und unbehelligt bewegen konnte. Jener Tag, an dem jeder Bürger Lübecks wissen würde, dass sie unschuldig gejagt und verfolgt worden war. Keine Nacht verging, in der sie nicht aus dem Schlaf aufschreckte und auf die Geräusche lauschte, die sie umgaben. Was war ihr Leben wert, wenn es nur auf Lügen und Täuschungen aufgebaut war? Wenn diese eine Hoffnung, ihre geliebte Tochter eines fernen
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