Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
herausnahm und sie dem Mann reichte.
Landsbergs Brauen hoben sich, seine Zunge benetzte die Lippen. »Ein wirklich außergewöhnlicher Fund.« Besonders eingehend untersuchte er den Stein mit der eingeschlossenen Libelle.
Die drei sahen einander an.
»Wie sind die Luftblasen und das Tier hineingekommen?«, wollte Cristin wissen.
Der Mann lächelte. »Ihr kennt doch bestimmt das klebrige Zeug, das Nadelbäume absondern.« Mit dem Kopf wies er auf eine Reihe Tannen, die abseits des Strandes auf einem Hügel wuchsen.
»Natürlich«, nickte Baldo. »Aber was hat das mit diesen Steinen zu tun? Die sind doch offensichtlich vom Wasser angeschwemmt worden.«
»Das stimmt«, erklärte der Mann weiter. »Das klebrige Zeug, man nennt es übrigens Harz, wird erst hart wie Stein, wenn es längere Zeit auf dem Meeresboden gelegen hat.« Er gab Cristin die beiden Steine zurück, griff in einen kleinen Lederbeutel, der an seinem Gürtel hing, und holte eine Handvoll fingernagelgroßer goldbrauner Kügelchen hervor. »Hier, die habe ich heute Morgen gefunden. Eure sind allerdings schöner und damit weitaus wertvoller.«
Baldo schluckte. Er bemerkte, wie Cristins Hände zitterten, ebenso wie seine.
Sie räusperte sich. »Und die Libelle?«
»Ach ja, die Libelle.« Der Fremde ließ die Steine in seinen Beutel zurückfallen. Der Wind hatte an Stärke zugenommen, und Baldo legte Cristin seinen Mantel um die Schultern. »Die wird vor hundert Jahren auf dem flüssigen Harz gelandet sein, konnte nicht mehr fortfliegen und starb. Dann floss noch mehr Harz darüber, und das Tierchen war eingeschlossen.«
Cristin nahm den Stein zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte ihn im Sonnenlicht hin und her. »Er ist herrlich.«
»Ein kleines Wunder Gottes«, bestätigte Landsberg.
»Ein Wunder Gottes?« Baldos Lippen bogen sich nach unten. »Ihr habt uns doch gerade eben erklärt, wie diese Steine entstehen. Was hat Gott damit zu tun?«
Der Bernsteinhändler schaute ihn ernst, wenngleich nicht unfreundlich an. »Ihr haltet wohl nicht viel vom christlichen Glauben?«
»Dafür haben wir zu viel erlebt mit diesen Pfaffen, nicht wahr, Mädchen?«, schnaubte Baldo. Er spuckte im hohen Bogen in den Sand.
Piet verzog das Gesicht. »Wenn es drauf ankommt, sind die immer auf der Seite der Mächtigen und Reichen.«
Baldo nickte grimmig. Erst gestern hatte Cristins Bruder ihm erzählt, wie verächtlich die Geistlichkeit über Narren wie Victorius dachte. Sie verhöhnten die harmlosen Spaßmacher, weil sie in ihren Augen dumm und gottlos waren, standen sie doch dem Teufel nahe, dem Ursprung aller Narrheit. Er spürte, wie die alte Wut wieder in ihm hochkroch. Gott! Wer war schon Gott?
Landsberg seufzte. »Ihr habt leider recht. Die Kirche hat viel Schuld auf sich geladen, und sie tut es immer noch. Trotzdem liebt Gott die Menschen und hat seinen Sohn Jesus Christus zu uns gesandt, um für uns zu sterben und uns von unseren Sünden zu befreien.« Der Bernsteinhändler zog ein zusammengefaltetes Pergament aus seiner Manteltasche. »Lasst mich Euch vorlesen, was Christus, unser Herr, durch den Apostel Johannes über die Hure Babylon schreiben ließ: ›Von dem Wein des Zorns ihrer Hurerei haben alle Heiden getrunken, und die Könige auf Erden haben mit ihr Hurerei getrieben, und die Kaufleute sind reich geworden von ihrer großen Wollust. Und ich hörte eine andere Stimme vom Himmel, die sprach: Gehet aus von ihr, mein Volk, dass ihr nicht teilhaftig werdet ihrer Sünden, auf dass ihr nicht empfanget etwas von ihren Plagen. Denn ihre Sünden reichen bis in den Himmel, und Gott denkt an ihren Frevel!‹« Landsberg ließ das Pergament sinken. »Das Wort Gottes spricht hier von der Kirche in Rom und Papst Bonifatius, dem sogenannten Stellvertreter unseres Herrn.«
Baldo verstand nicht viel von dem, was der Mann vorgelesen hatte, doch er spürte den festen Glauben, von dem Landsberg erfüllt war. Es stand ihm nicht zu, andere für ihre Einstellung zu verurteilen, nur weil er selbst keinen Gott anbeten konnte.
Cristin runzelte die Stirn. »Ihr seid ein Händler, aber Ihr kennt die Bibel und redet wie ein Priester. Trotzdem sagt Ihr, dass die Kirche …«
»Ich bin ein Anhänger von Petrus Waldus«, unterbrach Landsberg sie. »Deshalb nennt man uns Waldenser. Vielleicht habt Ihr diesen Namen schon mal gehört?«
Baldo schüttelte den Kopf.
»Petrus Waldus, der Gründer unserer Bewegung, lebte vor etwa zweihundert Jahren in Lyon. Eigentlich war er
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