Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
und ab. Elsa saß neben ihr am Spinnrad und sang eine fremde Weise, während sie dem Rauschen des Windes lauschte. Der Sturm hatte nachgelassen, doch die kalte Luft, die durch die Ritzen der Tür zur Hofspinnerei drang, kündete einen frühen Winter an. In der Kammer herrschte ein angenehmes Halbdunkel, und Elsas Gesang verbreitete eine gelassene, beinahe fröhliche Atmosphäre. Cristin schaute auf ihre Hände. Die Wollfasern in ihrer Linken erinnerten sie an den Umhang, den sie vergangenen Herbst für Lukas gefertigt hatte, er war aus der gleichen Wolle hergestellt worden. Während sie die Spindel mit geübten Bewegungen bediente, tauchten vor ihren Augen Bilder auf …
Mit angezogenen Beinen saß sie auf einem Sessel, den sie nahe Elisabeths Bettchen aufgestellt hatte. Ihr war kalt, so kalt, dass sie meinte, von innen her erstarren zu müssen. Elisabeth. Ihretwegen musste sie am Leben bleiben und für sie sorgen. Mit brennenden Augen sah sie zu dem schlummernden Kind hinüber. Sie fürchtete sich vor dem Schlaf, denn dann würden die letzten Augenblicke vor Lukas’ Tod zurückkehren und sie quälen. Alle Tränen waren versiegt, was blieb, war Leere. Mit steifen Gliedern erhob sie sich und nahm seinen Umhang vom Haken. Sie schlang ihn eng um den Leib und hüllte sich darin ein. Sein Duft hing noch in den Wollfasern, besonders am Kragen. Tief sog sie den Geruch ein, der für sie Liebe und Nähe bedeutete, wobei die weiche Wolle sie am Hals kitzelte. Das Gesicht in dem Stoff vergraben, verharrte sie, bis sich der Morgen über die Kammer senkte.
Sie fuhr zusammen und zog im letzten Moment an der Holzspindel, bevor diese auf dem Steinboden zerschellen konnte. Elsa lächelte ihr zu. Das rundliche Gesicht der Spinnerin, die gut und gern ihre Mutter hätte sein können, war von Falten durchzogen, doch ihre Finger waren flink wie die eines jungen Mädchens. Cristin erwiderte das Lächeln und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Handspindel zu, aber das Besinnen auf die sich ständig wiederholenden Arbeitsschritte fiel ihr schwer.
Nie mehr möchte ich einem Mann so nahe sein, nur damit ich ihn dann erneut verliere. Ich könnte es nicht ertragen, dachte sie.
Baldos vertrautes Antlitz drängte sich ihr ungewollt auf. Sie hatte sich einfach zu sehr an seine Anwesenheit gewöhnt, und es wurde Zeit, sich das einzugestehen. Nur wo sollte er hin? Nach Lübeck zurück, dort, wo die Häscher des Vogts nur darauf warteten, ihn gefangen zu nehmen? Selbst wenn es Baldo und ihr gelingen sollte, Lukas’ Mörder zu stellen und somit ihre Unschuld zu beweisen, in der Stadt würde er das Amt des Scharfrichters übernehmen müssen, wenn sein Vater zu alt wäre, um die Verurteilten mit sicherer Hand ins Jenseits zu befördern. Der Gedanke ließ sie schaudern. Er muss hier in Polen bleiben, überlegte sie. Unter Jadwigas Schutz.
11
E mmerik Schimpf starrte mit offenen Augen an die Zimmerdecke. Sein nichtsnutziger Sohn war immer noch nicht nach Hause zurückgekehrt, obwohl er geglaubt hatte, dass Baldo schon bald wieder reumütig vor der Tür stehen würde. Als Vater wäre es seine Pflicht gewesen, Baldo zu züchtigen, kräftig sogar, außerdem hätte der Bengel sich vor dem Vogt für seine Tat verantworten müssen. Ein oder zwei Jahre in einer Zelle der Fronerei wären ihm sicher gewesen, doch Emmerik hätte seinem Sohn verziehen und ihn wieder bei sich aufgenommen, wenn dieser seine Strafe hinter sich gebracht hätte. Nun war alles anders gekommen. Was für ein verdammter Sturkopf! Lange Zeit hatte ihn Zorn bewegt, wenn er an Baldo dachte, aber nun, viele Monate später, musste der Scharfrichter sich widerwillig eingestehen, sich in ihm getäuscht zu haben. Die beiden Männer, die er beauftragt hatte, nach Baldo zu suchen, hatten Cristin Bremer in Hamburg entdeckt. Leider war sie ihnen im Gewühl des Marktplatzes entwischt. Seinen Sohn hatten die Kerle nicht gesehen, aber Emmerik war sich sicher: Die beiden waren zusammen unterwegs. Er grinste. Die Frau war ja auch eine reizvolle Person. Schon bei der Hinrichtung war ihm ihr verführerischer Leib aufgefallen, fast wie Maries, der Frau, die neben ihm lag. Während er ihren runden Hintern streichelte, dachte er an die Begegnung in dem kleinen Zelt zurück. Er hatte Cristin nicht sofort erkannt, wenngleich sie ihm bekannt vorgekommen war, denn die Verkleidung als Zigeunerin war äußerst gelungen gewesen. Doch dann war ihm ein Licht aufgegangen. Leider zu spät, denn da
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