Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
Hand, um ihn durch die Menge in Richtung der großen, geöffneten Flügeltüren zu lotsen, doch er schüttelte sie ab. Was war nur mit ihm los? Vermutlich fühlte er sich zwischen den vielen Menschen ebenso unwohl. Sie blieben vor den Türen stehen, und Cristin atmete erleichtert aus, denn ihre Beklemmung ließ nach.
Baldo pustete sich Luft zu. »Was mag hier vor sich gehen?«, murmelte er. »Die herausgeputzten Pfauen scheinen aufgebracht zu sein. Das riecht förmlich nach Ärger.«
Cristin nickte. »Warten wir ab, was geschieht, wenn Jadwiga und ihr Mann den Saal betreten.«
Von ihrem Standort aus hatte sie eine gute Übersicht über einen Großteil des Saales. In einer Ecke stand eine kleine Gruppe ärmlich gekleideter Männer, augenscheinlich Bauern. Ein Greis mit struppigen Haaren stützte sich schwer auf den Arm eines jungen, hohlwangigen Mannes und sprach auf ihn ein. Die beiden wurden von ihren auffallend stillen Frauen und einer kleinen Schar Kinder begleitet, die wegen ihrer gesenkten Köpfe einen unsicheren Eindruck machten. Cristin folgte dem verstohlenen Blick einer jungen Mutter. Ganz in ihrer Nähe stand ein hagerer Kleriker in einer fein gewebten Leinenrobe. Das kahle, nur von einem dünnen Haarkranz umgebene Haupt erhoben, beobachtete er scheinbar unbeteiligt das Geschehen, doch Cristin bemerkte ein leichtes Lächeln, das seine Lippen umspielte. Dass der Stolz und die Strenge, die der Priester ausstrahlte, die junge Frau verunsicherten, konnte Cristin gut nachempfinden.
Auf der anderen Seite des Thronsaals konnte sie nun auch die Gestalten von Piet und Janek ausmachen. Neben ihrem Bruder stand ein Mädchen mit einem dicken Zopf, der ihm bis zu den Hüften reichte. Das musste die junge Frau sein, von der ihr Bruder ihr erzählt hatte. Die beiden schienen in ein angeregtes Gespräch vertieft, und Piet, der an diesem Abend auf seine Narrenmaske verzichtet hatte, beugte sich gerade zu ihr hinunter, gewiss, um sie trotz des Stimmengewirrs verstehen zu können. Seine Miene wurde weich, während er dem Mädchen in die Augen sah. Janek, der neben Piet stand, hatte Cristin entdeckt und winkte ihr zu. Sie hob die Hand und winkte zurück.
In diesem Moment kündigte ein Herold den König und seine Gemahlin an, und ein Raunen ging durch die Menge. Die Menschen verstummten und verbeugten sich, während Wladislaw Jagiello und Jadwiga den Saal betraten und in den mit rotem Samt bezogenen Thronsesseln Platz nahmen. Cristin gab Baldo einen Wink, sich ebenfalls zu verbeugen, was er mit leisem Widerspruch tat. Wahrscheinlich schmerzte ihn das Bein, seit die Temperaturen gesunken waren.
Mit einem Kopfnicken gab der König den Anwesenden zu verstehen, sie sollten sich erheben. Jadwiga und Jagiello machten eine wahrhaft königliche Figur, in ihrer kostbaren Kleidung und mit den hell schimmernden, mit Edelsteinen besetzten Kronen. Jagiello, um einiges älter als seine Gemahlin, wirkte mit seiner hohen Stirn, den dünnen, bis auf die Schultern herabhängenden Haaren und der langen, gekrümmten Nase wie ein Vogel in der Mauser. Cristin senkte den Kopf und biss sich auf die Lippen, um das Kichern, das ihr bei dem Gedanken in der Kehle hochzusteigen drohte, zu unterdrücken. Erst als sie sich gefasst hatte, traute sie sich aufzusehen. Eines musste sie ihm allerdings zugestehen: Jagiellos herrischer Blick und das stolz erhobene Haupt ließen keinen Zweifel an seiner Position aufkommen. Er schien kein Mann zu sein, der Spaß verstand, doch vermutlich brachten die Wirren der Politik und die Last seines Amtes dies mit sich und hatten ihn zu dem gemacht, was er war. Jadwiga an seiner Seite, begrüßte er die Anwesenden mit einem freundlichen Lächeln.
Einer nach dem anderen trat nun vor das Herrscherpaar, um sein Anliegen vorzubringen. Mal waren es Streitigkeiten benachbarter Bauern, die es zu schlichten galt, dann wieder Neuigkeiten aus den umliegenden Reichen, die geschildert und beratschlagt werden mussten. Während die Zeit nur langsam verstrich, lehnte sich der König von Polen und Litauen in seinem Thronsessel zurück und gähnte hinter vorgehaltener Hand. Cristin zog Baldo mit sich, denn sein gequälter Gesichtsausdruck machte ihr deutlich, wie schwer ihm das Stehen fiel. Als sie sich zu Janek, Piet und dem blonden Mädchen gesellten, tastete der Junge nach ihrer Hand, und sie schloss die Finger um seine.
»Meine Lieben. Darf ich euch Marianka vorstellen?« Er lächelte ein wenig verkrampft. »Marianka, dies ist meine
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