Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
dachte er zynisch. Wie lange dieser Mensch wohl um Hilfe winseln würde, bis die dunkle, schwere Erde seine vor Todesangst heisere, um Gnade bettelnde Stimme für immer verschluckte? Der Henker betrachtete kurz die bekannten Gestalten von Vogt Büttenwart, Fiskal Mangel, dem Priester sowie einigen anderen. Gesetz und Kirche, wieder einmal in einer unheiligen Allianz vereint. Die mit einem Tuch verhüllte, an den Knöcheln gefesselte Person schwankte, und die Büttel griffen zu, damit sie nicht zu Boden stürzte. Unwillkürlich ließ Emmerik seine Augen über die Gestalt wandern. Eine Frau!
Er spürte, wie sein Körper auf die zierliche und doch ungeheuer weibliche Gestalt reagierte. Trotz des schmutzigen und zerfetzten Kleides hatte die Frau eine stolze Haltung, und ihre Haut schimmerte warm im Abendlicht. Seine Augen blieben bewundernd an ihrem zerrissenen Ausschnitt hängen. Wie schnell sich ihre Brust hob und senkte. Dann wurde ihr das Tuch vom Kopf gerissen, und dem Scharfrichter stockte der Atem. Welch Sünde, so ein Prachtexemplar von Weib lebendig zu begraben! Emmerik trat unauffällig einen Schritt näher, wobei die Kapuze sein aufkeimendes Interesse versteckte . Wie angewurzelt blieb er stehen. War dies nicht die Frau vom Köpfelberg, an die er erst kürzlich hatte denken müssen? Die Frau, die bei der Hinrichtung des jungen Kirchendiebes entsetzt davongelaufen war? Der Henker schaute genauer hin. Die wenigen Haarstoppeln auf ihrem Kopf leuchteten rötlich. Selbst kahl geschoren und bleich wie der Tod war das Weib eine Schönheit. Emmerik atmete hörbar aus. Schade drum, ging es ihm erneut durch den Kopf.
»Schweig!« Die schrille Stimme des Priesters, gefolgt von einer schallenden Ohrfeige, die das Gesicht der Angeklagten traf, riss ihn aus seinen Gedanken. Jetzt sah das Weib ihn an. Und erbleichte.
»Henker, vollstrecke das Urteil an dieser Hexe und Mörderin von Lukas Bremer, ihres eigenen Mannes«, unterbrach die Stimme des Fiskals seine Überlegungen.
Eine Mörderin also. Er schaute sich suchend nach seinem Sohn um, der etwas abseits stand und das Geschehen beobachtete. Mit einer Kopfbewegung forderte er ihn auf, näher zu treten.
Baldos Kehle war wie zugeschnürt. Diese Frau sollte die Mörderin von Lukas Bremer sein? Seit dem Tag, an dem sein Vater ihn zu Medicus Küppers geschickt hatte, um den Hund abzuholen, und er unter dem Fenster mit angehört hatte, wie die Männer darüber gesprochen hatten, den Kaufmann aus dem Weg schaffen zu wollen, hatte er immer wieder über die wenigen Sätze nachgedacht. Etwa fünf Wochen später war ihm zu Ohren gekommen, dass der Besitzer der Goldspinnerei verstorben war. Es hieß, die junge Frau hier habe ihren Mann ermordet. Eine vage Idee nahm von ihm Besitz. Und wenn diese Frau unschuldig war? Wenn die Mörder des Mannes noch frei herumliefen? Der Gedanke war ungeheuerlich, und er hielt vor Schreck die Luft an. Nein, die Witwe war rechtmäßig angeklagt und für schuldig befunden worden. Sie musste die Tat begangen haben. Er warf der gefesselten Frau einen verstohlenen Blick zu. Wie sie dastand mit geradem Rücken und vor Verachtung funkelnden Augen in dem bleichen Gesicht. War sie eine Unschuldige, die selbst im Angesicht des Todes noch Würde besaß und keinerlei Scheu zeigte, gegen ihr Schicksal aufzubegehren? Seine Nackenhaare richteten sich auf, als ihm die unter dem Fenster von Küppers’ Haus aufgeschnappten Gesprächsfetzen erneut ins Gedächtnis kamen. Hatte er tatsächlich an jenem Tag ein niederträchtiges Komplott belauscht, oder waren seine Schlussfolgerungen nichts als Einbildung? Baldo spürte die wachsende Ungeduld des Vaters an seiner Seite. Er sah in die Gesichter der anwesenden Männer, entdeckte nirgends Mitleid oder eine andere menschliche Regung. In diesem Moment fühlte er Cristin Bremers Augen auf sich gerichtet, und was er in ihrem Gesicht las, ließ ihm den Mund trocken werden. Er schluckte. Ihre Wangen waren eingefallen, die Haut durchscheinend, und die aufgesprungenen, blutleeren Lippen formten ein einziges Wort: Bitte!
»Komm und hilf mir, verdammt!«, hörte er gleichzeitig seinen Vater zischen. »Sonst kannst du was erleben, wenn wir das hier hinter uns haben!«
Alles in Baldo versteifte sich. Er konnte die Augen nicht von der Frau wenden und spürte, wie seine Hände feucht wurden. Sie ist es nicht gewesen, schoss es ihm durch den Sinn.
»Mach schon.« Sein Vater knuffte ihn unsanft in die Rippen.
Baldo atmete tief ein,
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