Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
mit einer Hand über den geschorenen Kopf.
21
A m Friedhofseingang erwarteten drei mürrisch wirkende Männer in einfachen Wämsern und schmutzigen Hosen die Prozession. Der Richteherr trat auf sie zu, und Cristin betrachtete die aufblühende Natur. Knospende Büsche und der Geruch von feuchter Erde weckten den Eindruck von Erneuerung, doch hier auf diesem Friedhof gab es für sie nur Tod und Trauer.
»Wie weit seid ihr?«, fragte Büttenwart.
»Der Sarg steht neben der Grube, Richteherr«, antwortete einer der Männer.
»Dann führt uns hin, damit wir die Sache hinter uns bringen!«
Alles in ihr weigerte sich, näher an die Grabstelle heranzutreten. Nein, sie wollte nicht einen Schritt weiter! Erst eine Woche zuvor hatte sie an genau dieser Stelle gestanden und mit ansehen müssen, wie der Sarg mit dem Leichnam ihres geliebten Gemahls in die Erde gesenkt wurde. Alle waren sie gekommen, um ihr Beileid auszusprechen: Lynhard, Mechthild, Geschäftsleute und Freunde. Niemals würde sie vergessen, wie es gewesen war, mit der Kleinen auf dem Arm hier an diesem Platz zu stehen, während Sand auf den Sarg geschüttet wurde. Nun stand dieser Sarg abermals – diesmal geöffnet – neben der tiefen Grube. Allmächtiger Gott, dachte sie. Sie wollte diesen Körper nicht sehen, keuchte.
»Lasst uns beginnen«, hörte sie eine Stimme wie von ferne.
Konrad Küppers trat an den Sarg und zog mit einer schnellen Bewegung die Decke über Lukas’ weißem Körper fort, der nahezu nackt vor ihnen lag. Cristin schlug eine Hand vor den Mund. Der Gestank war unerträglich, und sie zwang den sich ihr aufdrängenden Würgreiz hinunter, während ihre Beine unter ihr nachzugeben drohten.
»Wollt Ihr gestehen?«
Sie wandte den Kopf ab. »Ich habe nichts zu gestehen«, flüsterte sie heiser.
»Dann runter mit Euch auf die Knie!«
Sie sah Küppers verständnislos an. Eine Hand fasste nach ihrer Schulter, drückte sie hinunter.
»Hörst du nicht, was der Richteherr befiehlt?« Einer der Büttel stand hinter ihr. »Du sollst dich hinknien.«
Der Priester, ein hochgewachsener, hagerer Mann in reich verziertem Skapulier über der weißen Tunika, nickte ihr zu. »Tu, was die Männer sagen. Wenn du unschuldig bist, wird dieses Gottesurteil es beweisen. Wenn nicht, dann wird uns der Tote dies klar und deutlich zeigen.«
Verwirrt blickte sie ihn an.
Der Priester schürzte die Lippen. »Blut wird hervorbrechen aus seinem Leib, und die Wahrheit wird für jeden hier klar und deutlich zum Vorschein kommen.«
Wie betäubt sank sie auf die Knie.
Fiskal Mangel sah auf sie herab. »Nun rutsche auf Händen und Knien um den Sarg herum und das dreimal. Rufe dabei den Namen des Verstorbenen aus, damit seine Seele dich hört!«
Cristins Stimme klang tonlos. »Ich bitte Euch, das ist doch …«
»Tut es, verdammt noch mal!«, zischte Mangel und handelte sich dafür einen strafenden Blick des Priesters ein.
Dessen Miene verzog sich zu einem Lächeln.
»Wenn du unschuldig bist, hast du nichts zu befürchten, mein Kind!«
Zögernd kroch sie vorwärts. Umrundete den geöffneten Sarg. Nannte den Namen des geliebten Mannes. Umrundete den Sarg ein zweites und schließlich ein drittes Mal. »Lukas Bremer, du weißt, dass ich keine Schuld an deinem Tod trage«, murmelte sie.
»Schwört bei Gott dem Allmächtigen, allen Heiligen und der Mutter Gottes, dass Ihr nichts mit dem Tod dieses Mannes zu tun habt«, zischte der Fiskal.
»Ich schwöre es.«
»Lauter!«
»Ich schwöre es!«
»Jetzt küsst den Leichnam!«
»Ich bitte Euch, Herr, zwingt mich nicht dazu .«
»Du sollst ihn küssen, Weib!«
Cristin griff sich an ihr heftig pochendes Herz und starrte auf den verwesenden Leichnam, dessen widerlich süßlicher Geruch schwer in der Luft hing. Sie konnte doch nicht … Schwindel erfasste sie. Lukas lag wächsern bleich im Sarg. Faltenlos, gar maskenhaft war sein Gesicht, und seine dunklen Augenränder zeugten noch von dem Todeskampf. Er wirkte fremd und durchscheinend. Eine Fliege umkreiste den Kopf des Toten, und beim Gedanken, ihn küssen zu müssen, drehte sich ihr der Magen um. Dies war nicht mehr der Mann, mit dem sie gelacht und gelebt hatte!
»Nein«, stammelte sie und schwankte.
Sie spürte die abwartenden Blicke der Anwesenden auf sich gerichtet. Wenn sie nicht gehorchte, war ihr Schicksal besiegelt. Sie schluckte hart und beugte sich mit angehaltenem Atem hinunter. Näherte sich. Zögernd. Bis ihre Lippen die eingefallene Haut an der
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