Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
Wange berührten.
Der Priester räusperte sich. »Sie hat den Sarg dreimal umrundet, Vogt.«
»Ich kann ebenfalls zählen«, erwiderte der Mann gereizt und wandte sich dem Medicus zu. »Küppers, untersucht den Leichnam, ob irgendwo Blut hervortritt. Bitte seid genau, Ihr wisst, was ich meine?«
»Das versteht sich von selbst, Richteherr.«
Der Arzt beugte sich über Lukas’ Körper, hob kurz Arme und Beine an und bewegte den Kopf hin und her. Den gläsernen, kaum zeigefingerlangen Gegenstand, den der Medicus in der rechten Hand verborgen hielt, bemerkte niemand. Schließlich schaute Küppers auf. »Nichts Ungewöhnliches zu sehen.«
»Dann hat diese Frau das Gottesurteil bestanden und muss freigelassen werden«, erklärte der Priester.
Der Richteherr kratzte sich am Kinn. »Tatsächlich unschuldig«, räumte er ein. »Wer hätte das gedacht? Schreiber, bitte notiert: Cristin Bremer, des Mordes und der Hexerei an ihrem Mann Lukas angeklagt, hat die Bahrprobe bestanden. Sie ist unschuldig. Lübeck, den 4. April im Jahr des Herrn 1397.«
Cristin hörte noch, wie der Griffel über die kleine Tafel kratzte, die der Stadtschreiber auf ein aufklappbares Pult gelegt hatte, und spürte bittere Galle in ihrer Kehle aufsteigen. Im nächsten Moment erbrach sie sich krampfartig.
Dem Fiskal, der nur einen Schritt von ihr entfernt stand, gelang es nicht, seine teuren Schnabelschuhe in Sicherheit zu bringen. »Verdammt! Kannst du nicht aufpassen!« Fluchend suchte er in seinem Beutel nach einem Tuch, um die beschmutzten Schuhe zu reinigen.
»Hier, nehmt das.« Vogt Büttenwart reichte ihm ein Tuch. »Wir sollten nun nach Hause gehen.« Er verzog die Lippen zu einem dünnen Lächeln. »Damit Frau Bremer sich noch einmal von ihrem Mann verabschieden kann, bevor er ein zweites Mal beerdigt wird.« Er griff in seinen Geldbeutel und nahm ein paar Münzen heraus, die er den Totengräbern zuwarf.
»Hier, für eure Mühe. Aber verprasst es nicht gleich im nächsten Hurenhaus.«
Die Männer lachten rau und fassten nach dem Sargdeckel. Cristin, die sich erhoben hatte und ein paar Schritte zur Seite getreten war, schloss die Lider. Leb wohl, wo immer du sein magst. Möge Gott, der Herr, dir endlich Ruhe schenken.
»Wartet, ich muss den Leichnam noch auf die Seite drehen«, unterbrach die Stimme des Medicus ihre Gedanken. »Ich habe versäumt, den Rücken des Toten zu untersuchen. Schließlich soll alles seine Ordnung haben.«
Sie öffnete die Augen und hob den Kopf, während Küppers noch einmal neben dem Sarg niederkniete. Er fasste den Toten am Oberarm und an der Hüfte und drehte ihn ein wenig. »Was ist denn das?«
Auch Cristin trat näher an den Sarg heran. Und dann sah sie es. Ein feines Rinnsal Blut lief langsam aus Lukas’ rechtem Mundwinkel die Wange herab.
»Sieh an, sieh an!«, vernahm sie die triumphierende Stimme des Fiskals, der sich über die Leiche beugte.
Cristin sank auf die Knie.
22
G robe Hände zogen sie empor und stellten sie auf die Füße. Cristin schaute direkt in Fiskal Mangels wässrig blaue Augen.
»Schuldig!«, zischte er. »Ich habe es die ganze Zeit geahnt! Hast du wirklich geglaubt, den Allmächtigen täuschen zu können, du heimtückische Mörderin?«
Sie wich zurück. »Das ist nicht wahr«, presste sie hervor. »Gott ist mein Zeuge, dass ich niemals einem Menschen etwas zuleide getan habe.« Sie fiel vor Vogt Büttenwart auf die Knie und wollte nach seinen Händen greifen. Er wedelte mit der Hand, als wollte er ein lästiges Insekt vertreiben.
»Weiche von mir, Weib! Du hast das Blut gesehen. Wir alle haben es gesehen. Die Seele deines ermordeten Ehemannes klagt dich an!« Er wandte sich zu dem Priester um, der sich gerade leise mit dem Medicus unterhielt. »Dafür wird sie auf ewig in der Hölle schmoren, nicht wahr?«
Der Geistliche nickte grimmig.
Wenig später wurde sie erneut zum Marktplatz geführt, vor Vogt Büttenwart, um das Urteil zu empfangen, zu dem die eilig herbeigerufenen Schöffen zusammengekommen waren.
»Die der Hexerei und des Mordes an ihrem Ehemann Lukas angeklagte Cristin Bremer wird zum Tode verurteilt. Der Henker der Stadt Lübeck soll sie unverzüglich lebendig begraben …«, hörte sie den Richteherrn verkünden.
Lebendig begraben. Ihre Hand fuhr empor zu der Stelle, wo ihr Herz wild gegen die Rippen hämmerte. Begraben. Lebendig. In ihrer Kehle formte sich ein Schrei, doch als sie den Mund öffnete, drang nur ein heiseres Krächzen heraus.
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