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Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerit Bertram
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machte einen Schritt vorwärts und fasste zaghaft nach dem Arm der Verurteilten, die sich widerstandslos an den Rand der frisch ausgehobenen Grube führen ließ. Während er zusah, wie sein Vater, der Henker, der jungen Frau einen Schubs versetzte und sie in die Grube stieß, wurde er auf einmal ganz ruhig.

23
     
    G robe Hände stießen sie rückwärts, und ein erstickter Laut drang aus ihrer Kehle. Der Länge nach stürzte sie mit dem Rücken voran auf den feuchten Boden und stöhnte vor Schmerzen auf. Dann senkte sich Dunkelheit über sie. Oh Gott, warum hast du mich verlassen? Feuchtigkeit drang durch ihr dünnes Kleid und begann, jede Wärme aus ihr herauszupressen.
    »Hier, nimm das!«
    Sie hob den Kopf. Der Priester, Fiskal Mangel und der Richteherr beugten sich mit gerecktem Hals über die Grube.
    »Nimm das Schilfrohr.« Der Priester streckte die Hand aus und reichte ihr einen langen, dünnen Gegenstand. »Damit deine Seele ausfahren kann.«
    Die Männer wandten sich ab. »Emmerik, du kannst jetzt zuschaufeln, damit wir hier fertig werden«, hörte sie den Richteherrn sagen.
    Cristin wollte schreien, doch es fehlte ihr die Kraft dazu. Sie zerrte an den Handfesseln, aber das Seil schnitt ihr nur noch tiefer in die aufgescheuerte Haut. Tränen stiegen ihr in die Augen. Cristin vernahm ein Geräusch, und im nächsten Moment flog etwas Schweres beinahe schmerzhaft gegen ihren Leib. Sie bringen mich um. Sie begraben mich . Schon traf die nächste Schaufel Erde ihren Brustkorb, zwei weitere ihre halb nackten Beine. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, Schweiß trat Cristin aus allen Poren und vermischte sich mit den Erdbrocken auf ihrer Haut. Mit weit aufgerissenen Augen hob sie den Kopf, konnte gerade noch erkennen, wie weitere Erde auf sie niederprasselte, ihr Gesicht traf. Cristin schrie auf. Sie blinzelte, um durch den Schleier aus Tränen und Sand noch etwas erkennen zu können. Stimmen drangen wie aus der Ferne zu ihr hinunter, aber sie nahm sie kaum noch wahr. Das Rohr. Ich muss … muss an das Rohr kommen. Mit aller Kraft schaffte sie es, die Unterarme anzuheben und die Hände mit dem fingerdicken Schilfrohr zum Mund zu führen. Sofort hatte sie ein paar Erdkrümel im Mund. Sie spuckte aus und blies in das Rohr. Es war durchgängig, doch wie viel Zeit würde ihr das bringen? Zwei weitere Schaufeln Erde begruben ihren nackten Kopf. Sie schob das Schilfrohr höher, sog gierig die Luft in ihre Lungen.
     
    Baldo starrte auf den frischen Erdhügel, aus dem ein Teil des Schilfrohres hervorlugte.
    »Komm«, meinte sein Vater. »Wir wollen nach Hause.«
    Der junge Mann biss sich auf die Unterlippe. Das Schilfrohr, durch das die Seele des Opfers aus dem Grab entweichen sollte. Er glaubte nicht an diesen Unsinn, aber die Frau würde so zumindest noch einige Zeit aushalten können. Viel länger als eine Stunde konnte sie jedoch unmöglich in der kalten Erde überleben. Unauffällig sah er sich um. Drüben, einige Meter von ihm entfernt, entdeckte er den Medicus, Fiskal Mangel und diesen fremden blonden Mann, scheinbar ein Verwandter der Verurteilten, der sich angeregt mit den beiden unterhielt. »Ich … ich habe noch etwas zu erledigen, Vater«, sagte er und drehte sich um.
    »Du? Zu erledigen?« Emmerik Schimpf hob eine Braue.
    »Ich bin … verabredet.« Baldos Stimme zitterte leicht.
    »Wohl die neue Hübschlerin, mit der du dich neulich schon getroffen hast?«, wollte der Henker wissen und klopfte ihm gutmütig auf die Schulter.
    Baldo mied seinen Blick. »Ja, so ist es, Vater. Bis später.«
    So ruhig wie möglich schritt er in entgegengesetzter Richtung weiter. Übelkeit stieg in ihm hoch. Nur jetzt nicht unsicher wirken, dachte er und ballte die Hände, die er in die Taschen seines Wamses geschoben hatte, zu Fäusten. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, während er den Platz überquerte, vorbei an mehreren Erdhaufen, die von vergrabenen Hundekadavern und Selbstmörderleichen zeugten. Der böige Wind kühlte sein Gesicht. Seine Füße wollten laufen, wollten über diesen schrecklichen Ort hinwegfliegen. Endlich hatte er den Hügel verlassen und warf noch einen vorsichtigen Blick zurück. Ein letzter tiefer Atemzug, dann lief er los. Aber wohin? Er hastete weiter, passierte das Burgtor.
    In Gedanken ging er die Namen seiner Freunde und Bekannten durch. Es waren nicht viele, sie alle wohnten zu weit entfernt. Menschen gingen achtlos an ihm vorüber, sie waren seinen Anblick gewöhnt. Auf einmal tauchte ein

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